Das Knurren der Moderne


Das Leben ist kein Spaß, sondern ein nicht enden wollendes Überlebenstraining. Weil von überall Gefahr droht, müssen wir ständig aufpassen. Früher achteten wir auf Rascheln im Wald, ein Knurren im Dunkeln oder auf Gewitter. Heute sind es Autohupen, Telefongeklingel oder Ansagen im ICE, von denen Gesundheit und gute Laune abhängen. In Kenia hat ein Phänomen meinen Erfahrungshorizont erweitert, das mit einem der wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu tun hat: dem Kaffee am Morgen.

Eine meiner schönsten Pflichten als männliche First Lady ist es, meiner beruflich erfolgreichen Frau morgens Milchkaffee zu machen. Einerseits liegt das an ihrem Recht, morgens etwas länger liegen zu bleiben. Schließlich hat sie im Gegensatz zu mir einen anstrengenden Tag vor sich. Andererseits liegt es an meinem Recht, die Espressomaschine zu bedienen. Schließlich kenne ich im Gegensatz zu ihr die korrekte Abfolge von Dampfaufbau- und ablassen, Kesselfluten und Espressostampfen wie im Schlaf.

Mitlesenden Juristen sei gesagt: Beides – das Liegenbleiben und das Kaffeemachen – ist weder ehevertraglich verbrieft noch sonst irgendwie dokumentiert. Es ist ganz eindeutig dem Gewohnheitsrecht zuzuordnen, wo durch jahrelange Ausübung eines gewissen Umgangs miteinander ungeschriebenes Gesetz entsteht. Nie hätte ich gedacht, dass sich eine völkerrechtliche Erläuterung des Gewohnheitsrechts so prächtig zur Beschreibung der Ehe eignet.

Der Tag beginnt für mich also mit dem Kaffeemachen. Das heißt, nicht ganz, tatsächlich beginnt er mit einem angestrengten Horchen. Still liege ich da und lausche. Zahllose Vogelarten vor dem Fenster begrüßen den Morgen. Ich lasse sie pfeifen, flöten und trillern. Hundert Wachhunde heulen ein letztes Mal gemeinsam auf. Sollen sie doch. Ein kenianischer Politiker donnert in seinem Helikopter im Tiefflug übers Haus. Auch das ist mir egal. Nach monatelanger Übung sind meine Ohren fein sensibilisiert und suchen nach einem leisen, aber anhaltenden Dröhnen in der Ferne.

Dieses Dröhnen gehört zum Stromgenerator eines Hauses in der weiteren Nachbarschaft. Die große Dieselmaschine springt an, wenn der Strom ausfällt, und setzt damit dort alle elektrischen Geräte und hier, bei mir, einen Erkenntnisprozess in Gang. Etwa so gemächlich wie Espresso aus einer guten Maschine, tröpfelt das Dröhnen ins Bewusstsein und hilft mir, diesen einen puren und völlig ungesüssten Gedanken zu formen: Aus der Anwesenheit des Lärms folgt die Abwesenheit von Milchkaffee in naher Zukunft.

Der Strom fällt hierzulande skandalös oft aus. Nach unserem Einzug hatten auch wir nach ein paar Wochen bei wechselnder Beleuchtung, schwarzem TV-Bildschirm und abstürzenden Computern für Abhilfe gesorgt. Allerdings hatten wir uns gegen einen Generator und für vier große Lastwagenbatterien entschieden, die jetzt in der Speisekammer, direkt unter dem Regalbrett für Nudeln, Reis und Kartoffeln, auf ihren Einsatz warten. Fällt der Strom aus, kommen die Batterien zu Hilfe, so schnell, dass wir den Wechsel nicht einmal bemerken.

Mit großen Batterien kann man vielleicht tagelang Licht, Computer und Fernsehen betreiben, aber keinen Herd, keinen Föhn und auch keine Espressomaschine. „Ja, aber, das ist doch jetzt doof, kein Espresso am Morgen“, höre ich jetzt den Chor der Caffe Latte-Fetischisten greinen. Danke, das gibt mir endlich die Gelegenheit zuzugeben, dass ich nur einmal, ein einziges Mal in meinem Leben, in einem anderen tropischen Land, einen 60 PS starken Generator gestartet habe und ihn eine halbe Stunde lang dröhnen und stinken ließ, nur damit ich meinen Espresso trinken konnte. Noch heute schäme ich mich dafür und will es nie wieder tun.

Dem Nachbarn ist solche Selbstkritik offenbar fremd. Er lässt den Motor laufen, wenn es sein muss Tag und Nacht, und sollte damit nur das Handy-Ladegerät des Nachtwächters betrieben werden, ist es ihm auch egal. Der Vorteil für uns Anlieger ist: Nun haben wir ein Frühwarnsystem für Stromausfälle. Ich muss nicht mehr in die Küche gehen und erst schlaftrunken die Espressomaschine anschalten, wieder ausschalten, wieder anschalten, als könnte ich durch wiederholtes Betätigen des Knopfes dem Schicksal noch eine Chance zur Besinnung geben.

Generator sei Dank kann ich nun still im Bett liegen bleiben und mit zunehmendem Unbehagen dem Dröhnen lauschen. Wie ungerecht: Im Schlaf und ohne eigenes Zutun bin ich vom täglich erneut gepriesenen Liebesdiener an der Espresso-Maschine zum Überbringer schlechter Nachrichten geworden. Auch Nichtstun schützt also vor Schuld nicht. Und Schuld hat der Generator beim Nachbarn, was natürlich Quatsch ist, denn Schuld haben die kenianischen Elektrizitätswerke. Auch mein stiller Zorn fokussiert sich zunächst nicht auf den Verursacher der Misere, sondern auf den Botschafter, auf jenen unbekannten Herrn, der so verschwenderisch mit Lärm und Diesel umgeht.

Lange arbeite ich in Gedanken an einer passenden Formulierung, erwäge verschiedene Strategien, wie ich die schlechten Neuigkeiten möglichst stimmungsschonend überbringen könnte. Da ist zum Beispiel die Ablenkungs-Strategie, mit möglichst launiger Stimme vorgetragen: „Lust auf einen Tee heute Morgen?“ Oder die Gesundheits-Strategie, bei der der Kopf bedenklich hin und her zu wiegen ist: „Du willst heute ja bestimmt keinen Kaffee, hattest Du nicht gestern Magenschmerzen?“ Oder die Aktivitäts-Strategie, die leicht hyperventilierend dargeboten werden sollte: „Ich muss jetzt gleich an Schreibtisch, habe überhaupt keine Zeit für Kaffee“. Schließlich die Milch-Strategie, mit einer Mischung aus Klage und Genervtheit: „So was blödes, die Milch, die ich gestern erst gekauft habe, ist schon wieder sauer. Was ist eigentlich mit diesen kenianischen Kühen los?“

Wie ich es auch drehe und wende, am Ende ist jede Beschönigung vergebens. Am Resultat ändert sich ja doch nichts, und von Skandalen in Wirtschaft und Politik haben wir gelernt, dass Verschleierung und Salami-Taktik sich langfristig nicht auszahlen. Deshalb entscheide ich mich für brutale Offenheit und Transparenz und sage ganz schlicht und unaufgeregt in den dämmrigen Raum hinein: „Stromausfall, heute gibt‘s keinen Kaffee“.

Erst höre ich nichts, dann raschelt es neben mir, es ertönt ein Knurren, und aus den Augenwinkeln sehe ich Augen aufblitzen. Die Moderne ist ein sehr störanfälliges Konstrukt.