Die Gewissensfrage

Auf dem Weg zum Lake Magadi, einem Salzsee im Süden Kenias, sehen wir im Vorbeifahren eine Gestalt am Straßenrand stehen. Ein Mann im hellgrauen Anzug, in der linken Hand hält er ein Buch, mit der rechten winkt er. Möchte wohl mitgenommen werden. Wir sind hier fernab jeder Zivilisation, haben seit 20 Kilometern kein Auto, kein Haus und keinen Menschen mehr gesehen, und heiß ist es auch. Die Frage ist: Sollen wir, oder sollen wir nicht?

Wir diskutieren, entscheiden uns dagegen. Zu deutlich ist die Erinnerung an unser Sicherheitstraining. Niemals und unter keinen Umständen, wurde uns eingetrichtert, sollten wir in Kenia jemanden ins Auto lassen, egal wie gepflegt, seriös, hilfsbedürftig oder sonst vertrauenserweckend die Person auch scheinen mag.

Ein Unfall oder eine Panne könnten inszeniert und eine Falle sein, ein Hilfsbedürftiger sich mit Komplizen verabredet haben, die ein paar Kilometer weiter lauern. Zu viele Geschichten von Entführungen, Überfällen und Carjackings schwirren in unseren Köpfen umher. Wir fahren vorbei, der Mann senkt den Arm und verschwindet im Rückspiegel.

Wir besprechen uns während es weiter über Schlaglöcher Richtung Süden geht. Hier ist so gut wie kein Verkehr, der Mann könnte noch tagelang dort in der Hitze stehen. Ich hatte vorher in Reisebeschreibungen gelesen, dass auf dieser Strecke nur einmal täglich ein Bus verkehrt. Andererseits, was macht er da, mitten im Nichts? Unsere Diskussion geht hin und her, wir finden keine Lösung.

30 Kilometer weiter steht wieder ein Mann am Straßenrand, ein echtes Deja Vu. Er trägt einen grauen Anzug, hält ein Buch in der linken Hand und signalisiert uns mit dem rechten Arm. Kein Haus, kein Mensch, kein Auto weit und breit.
Das Buch in der Hand könnte eine Bibel sein, der Mann ein Pfarrer. Oft stehen die Kirchen hier irgendwo in der Landschaft. Es ist Sonntagmorgen, vielleicht muss er zur Messe. Beinahe halten wir an, dann aber doch nicht.

Auf unserer Fahrt sehen wir noch andere winken, Masai-Frauen im traditioneller Tracht, Bauern, Kinder. Wir halten nicht. Abends, wieder zuhause, beschäftigt uns die Frage immer noch: Hätten wir ihn, den vermeintlichen Pfarrer, mitnehmen sollen? Ich beschließe, meine kenianischen Mitarbeiter, Freunde und Kollegen zu fragen. Die müssen es schließlich wissen. Würdet ihr für jemanden anhalten, der aussieht wie ein Pfarrer, am Straßenrand steht und winkt?

Unser Wächter: „Auf gar keinen Fall, es könnte ein Falle sein.“

Unser Kisuaheli-Lehrer: „Niemals, das wäre viel zu gefährlich.“

Eine kenianische Freundin: „Seid ihr verrückt, das war ganz sicher eine Falle. Was macht der da am hellichten Vormittag? Wie viel Uhr war es? 10 Uhr? Ein echter Pfarrer müsste da längst in der Kirche sein!

Ein kenianischer Kollege: „Seid nicht so naiv, auf keinen Fall! Natürlich ist das tragisch. Ich kenne die Gegend. Da gibt es nichts. Eigentlich müsste man die Leute mitnehmen, aber es geht einfach nicht.“

Was Menschen von einander denken, muss nicht der Wahrheit entsprechen. Es genügt völlig, eine recht genaue Vorstellung davon zu haben, wie es sein könnte. Anders gesagt: Am Straßenrand in Kenia steht ein Mann im Anzug, der ein Buch in der einen Hand hält und mit der anderen winkt. Den Rest erledigt unsere Phantasie.