Nur Frösteln ist schöner

Ghana ist klein und Afrika groß. Ich will mehr davon sehen und fliege deshalb nach Kenia. Schon am Flughafen Accra beginnt die Reise interessant zu werden. Nach den Ausreiseformalitäten sind von den zwei Stunden, die man sinnloserweise vor Abflug erscheinen soll, noch eineinhalb Stunden übrig. Zeit genug, der Flughafen-Bar einen Besuch abzustatten. Die Szenerie dort erinnert an jene klassischen Hotelfilme, in deren Lobbys sich Schicksale für kurze Zeit dramatisch kreuzen.

Um aus der Flughafen-Bar in Accra tatsächlich eine Hotel-Lobby werden zu lassen, braucht es eine Menge Phantasie und gut trainierte selektive Wahrnehmung. Die Baugrube einer Tiefgarage hat mehr Charme als diese 15 Meter hohe Halle, von deren Decke ungeschminkt Neon-Röhren herab leuchten. Geduckt wie Kühe bei Gewitter stehen in einer Ecke grob gehauene Bambusmöbel herum, auf denen das Publikum mehr lümmelt als sitzt, dabei Bier trinkt, Musik hört, Zeitung liest, sich unterhält oder einfach in die Ferne glotzt. In eine Ferne, die ein paar Meter weiter an einer hässlichen Betonmauer endet.

Drüben sitzen die Vertreter der Entwicklungszusammenarbeit, oft im knautschigen Leinen-Look, manchmal im Business-Outfit der 80er Jahre, jedenfalls modisch selten im Jetzt angekommen. Hier sehen wir Ingenieure mit Tätowierungen am Unterarm, das gut gefüllte karierte Hemd eng an den Körper geschmiegt und das Mobiltelefon wie einen Colt an den Gürtel geschnallt. Dass die Füllung des Holzfällerhemdes unter anderem auch aus Muskeln besteht, merke ich später, als ich mich im Flugzeug mit meinem Nebensitzer David bekannt mache. „I’m in goldmining“, sagt er, und drückt mir die Hand, mit genug Kraft, um Gold auch ohne maschinelle Hilfe aus dem Boden zu quetschen.

Der skurrilste Barbesucher ist ein ältlicher Herr mit schütterem Haar, der ausgebeulte Cordhosen trägt und seit geraumer Zeit in seinen aufgeklappten ranzigen Aktenkoffer starrt, den er auf den Knien trägt. Äußerlich scheint der Koffer eher uninteressant, es sei denn, jemand fände den grünlichen „verschimmeltes Leder“-Look cool. Der Alte lässt keinen Augenblick den unsichtbaren Inhalt des Koffers aus den Augen, und seine Hände, ebenfalls vom Deckel verborgen, hantieren unablässig.

Was ist da drin, und was macht der da bloß? Nach einer Weile halte ich es nicht mehr aus, stehe auf und gehe unauffällig hinter ihm vorbei. Ich werfe einen Blick in den Koffer und bereue meine Neugier sofort. Dieses rentnerartige Lebewesen tut offenbar seit 15 Minuten nichts anderes, als Unmengen Dollarnoten zu zählen, die sich in seinem Koffer stapeln. Im Kofferdeckel stecken Pappheftchen, die im Vorbeigehen aussahen, wie Reisepässe, jawohl, Mehrzahl.

KGB, CIA, MI6, oder was? James Bond, der nach über vierzig Dienstjahren seine magere Staatspension plus Inhalt eines gut versteckten Bankkontos in einer britischen Ex-Kolonie genießen will? Oder nur ein gewiefter Pensionär, der in mehreren Ländern Sozialleistungen abgreift? Ich verziehe mich lieber wieder auf meinen Sitz. Wie man an Stuttgart 21 sieht, sind auch Rentner nicht mehr so friedlich wie einst.

Endlich geht es los. Ein Bus tuckert über die Piste, dann drücken sich die Insassen der Holzklasse aneinander vorbei auf ihre Sitze. Meiner ist direkt neben dem Notausgang, vor mir ein Meter Platz bis zur nächsten Reihe. Etwa eine Minute lang habe ich Zeit, mich über so viel Beinfreiheit zu freuen, bis ich entdecke, dass sich die Lehne nicht nach hinten kippen lässt. Auf meinen Protest hin erklärt mir der Stewart, dies sei so bei den Sitzen am Notausgang. Klasse, und das auf einem Nachtflug. Vor, seitlich und hinter mir betrachten mich Mitpassagiere mitleidig und machen es sich dann erst einmal demonstrativ gemütlich.

Dann die Sicherheitsbelehrung; meist handelt es sich dabei um einen kurzen Einakter, manchmal aber auch mehr, was von der Anzahl der Sprachen abhängt, hier Englisch und Suaheli. Diese Pantomime mit Playback ist sicherlich das am häufigsten gespielte Stück der Welt. Normalerweise wird es vor einem völlig ignoranten Publikum aufgeführt, das alles interessanter findet, als zu erfahren, wo sich der nächste Notausgang befindet, wirklich alles, sogar den Text auf der Rückseite der Kotztüte.

Nur David, der kräftige Ingenieur neben mir, und ich kommen diesmal nicht so leicht davon. Weil wir direkt vor dem Notausgang sitzen, erklärt uns ein Stewart persönlich und sehr eindringlich, wie wir im Notfall die Türe zu öffnen hätten. Erstens hätten wir nach dem Absturz auf das Kommando „Passenger Evacuation“ des Kapitäns zu hören. Dann, und nur dann, er betont es etwa zehn Mal, dürften wir die Schutzhülle abreißen, den Hebel ziehen und die Tür nach außen drücken. Ach, und eins noch: Bevor wir das tun, sollten wir unbedingt noch einmal hinausschauen. Sollte nämlich die Turbine, die sich direkt neben uns  befindet, in Flammen stehen, dann dürften wir den Notausgang natürlich auf gar keinen Fall öffnen, auch wenn der Kapitän noch so oft „Passenger Evacuation“ riefe.

Da ich sowieso unter Flugangst leide, beruhigen mich die Sicherheitstipps ungemein. Ich schließe einfach mit dem Leben ab, und schon geht’s besser. Auch befördert durch den Zwang zum Aufrechtsitzen, mache ich kein Auge zu und schaue mir aus reiner Verzweiflung den einzigen Film des Unterhaltungsprogramms an. In einem Western-Setting nimmt John Malkovich, der unglaublich alt und fett geworden ist, auf dem Weg zur Weltherrschaft Megan Fox als Geisel, die ausschließlich durch ein bis zum Platzen hochgepushtes Dekolleté beeindruckt, und am Ende von einem Helden gerettet wird, der den ganzen Film über von einer Brandwunde im Gesicht entstellt ist, aber dafür übernatürliche Kräfte hat.

Nach diesem sinnfreien Gemetzel, das ideal auf die Zielgruppe der nervlich angespannten Flugreisenden abgestimmt ist, bleibt mir nichts übrig, als den Rest der Zeit auf die weit zurückgekippten Lehnen der vor mir Sitzenden zu starren. In Nairobi angekommen, bin ich erst einmal zwanzig Minuten lang damit beschäftigt, nacheinander drei Zettel, einen weißen, einen blauen und einen gelben, mit mehr oder weniger denselben Informationen auszufüllen, um ein Visum zu bekommen. Ich bin so müde, dass ich die kleinbedruckten Ausgeburten der Bürokratenhölle auf Armeslänge entfernt halten muss, um sie lesen zu können. Dann trete ich gegen 6 Uhr morgens aus der Flughafentüre und stelle fest, dass ich, anders als in Ghana, nicht sofort zu schwitzen beginne. Im Gegenteil: Ich fröstle. Jetzt kann es nur noch besser werden.