Genau deshalb liebe ich Zugfahren. Um mir solche Fragen zu stellen und sie dann – ich sage es lieber gleich– nicht zu beantworten. Auf dem Weg von Berlin nach Frankfurt hält der Zug in Hildesheim. Ich sitze im Speisewagen, schaue aus dem Fenster und kontrolliere sinnloserweise, ob ich auch wirklich bin, wo ich zu sein glaube. Wenn die Landschaft so still vorbeiflitzt, verbiegt sich mein Zeitgefühl. Deshalb prüfe ich beim jedem Halt, wo ich bin, damit ich meinen Ausstieg ja nicht verpasse.
Hildesheim, also, noch mindestens zwei Stunden bis Frankfurt. Vor meinem Fenster steht eine ältere Frau, die ein etwa dreijähriges Mädchen in einem Kinderwagen am Bahnsteig geparkt hat. Oma mit Enkelin, nehme ich mal an. Die Oma hat graue Haare und schaut nervös von links nach rechts und wieder zurück. Wahrscheinlich wartet sie auf jemanden. Die Enkelin ist die Ruhe selbst und schaut einfach geradeaus, erst auf die Seitenwand des Waggons, dann etwas höher, wo sich unsere Blicke treffen.
Wobei, das ist jetzt nicht so ganz klar. Kann man von außen eigentlich durch ein Speisewagenfenster hineinschauen? Jedenfalls schaue ich unentwegt hin, weil dieses Kind mit seinen langen, dunkelbraunen Haaren, die das rundliche Gesicht einrahmen, riesige blaue Augen hat. Da fällt mir die Frage wieder ein, die ich mir seit längerer Zeit immer wieder stelle und dann wieder vergesse, nämlich, ob schwarze Kinder eigentlich blaue Augen haben.
Es heißt ja immer, dass die Augenfarbe aller Babys gleich ist und sich erst später durch Pigmentierung verändert. Das erste Mal fragte ich mich das, als ich in Harare, der Hauptstadt Simbabwes, auf der Suche nach einem Taxi aus meinen Hotel trat und den erstbesten Fahrer ansprach, der neben seinem Wagen auf der Straße stand. Der Mann drehte ich sich herum, und ich schaute in strahlende, hellblaue Augen. Verdutzt wie ich war, stellte ich ihm die ebenso dümmliche wie indiskrete Frage, wie es denn dazu gekommen wäre. Da der Taxifahrer offenbar kein Nebenerwerbs-Gentechniker war, antwortete er weise, diese Augen hätte ihm Gott geschenkt. Womit er vermutlich – auf die eine oder andere Weise – nicht Unrecht hatte.
Das nächste Mal erinnerte ich mich an die Frage, als bei unserem Tagwächter Collins in Nairobi Familienzuwachs anstand und er das Kind mir zu Ehren “Michael” taufen wollte. Ich fühlte mich natürlich sehr geehrt und willigte ein. Collins bat mich, meinen Namen auf einen Zettel zu schreiben, damit es beim Standesbeamten nicht zu Missverständnissen kommen würde. So wie bei dem Kind, das Sterling heißen sollte und am Ende Stalin hieß, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich gab Collins den Zettel, auf den ich Großbuchstaben “Michael” geschrieben hatte. Er schaute drauf und sagte dann, das reiche aber noch nicht genug. Wieso denn? Ja, also, man brauche bei ihnen immer zwei Namen. Ob ich denn keinen zweiten hätte? Hatte ich nicht. Wir diskutierten eine Weile, warum und wieso. Am Ende log ich und sagte, wenn meine Eltern mir einen zweiten Namen gegeben hätten, dann wäre es der meines Großvaters gewesen, und setzte deshalb hinter das “Michael” noch ein “Karl”.
Gespannt wartete ich darauf, dass demnächst ein kleiner, schwarzer Michael Karl die kleine Hütte von Collins und seiner Familie mit einem weiterem Leben füllt. Und dann bekam er keinen Sohn, sondern eine Tochter. Kein Problem. Er wendete dasselbe Prinzip an und gab ihr E.’s Namen, und zwar so, wie der Name auf den Briefen stand, die bei uns ankamen: Vor- und Nachname. Das ist in Kenia nicht ungewöhnlich. Ich kenne einen mit dem Vornamen “Kissinger” und einen anderen, der “Judmayer” heißt.
Einigen Wochen nach der Geburt stand ich – wie so oft – auf unserem Garagenvorplatz und schwatzte mit Collins. Ich weiß nicht mehr warum, wir sprachen über Haar- und Augenfarbe, die in Europa eine große und in Afrika nur eine kleine Rolle spielen. Ich erklärte ihm die Sache mit der Pigmentierung. Endlich fiel mir die naheliegende Frage ein, wie das eigentlich bei der kleinen E. gewesen sei. Er legte die Stirn in Falten und überlegte und überlegte und überlegte und sagte schließlich, es täte ihm wirklich leid, aber er könne sich nicht erinnern.
Jeder Journalist weiß, dass man mit zu viel Recherche gute Geschichten auch kaputt machen kann. Deshalb nehme ich jetzt nicht mein Smartphone in die Hand. Deshalb suche ich jetzt nicht nach der richtige Antwort, die es ohne Zweifel bei Wikipedia geben wird. Ich sitze im Speisewagen, auf dem Weg von Berlin nach Frankfurt. Die Landschaft flitzt wieder vorbei. Das kleine Mädchen mit blauen Augen in Hildesheim ist schon Geschichte. Ich fasse die Tasse an, der Kaffee ist kalt. Auch eine Methode um herauszufinden, wieviel Zeit vergangen ist.