Die Angst fliegt mit

Es gibt echte Probleme und unechte. Über die echten brauche ich gar nicht weiter zu reden, die hat jeder, kennt jeder, und lustig sind sie meist auch nicht. Die Unechten hingegen können recht unterhaltsam sein. Zum Beispiel der Kauf eines neuen Koffers. Nachdem ich lange einen Stoffkoffer herumgeschleppt habe, wollte ich mit der Zeit gehen. Habe mir also diese Polycarbonat-Dinger gekauft, die sich von vorneherein anfühlen, als kämen sie direkt vom Recyclinghof. Dafür seien sie viel stabiler als die alten, hieß es.

Jedenfalls, wenn man richtig packt. Ja, wenn. Nun ist auch dies etwas, was man richtig und falsch machen kann. Genügt es denn nicht, einen Doktor in Quantenphysik zu haben und vor dem Frühstück Fermats Gleichung zu lösen? Bisher war das Packen zumindest von der Theorie her ganz einfach und beruhte vor allem auf Erfahrungswerten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden: Koffer aus dem Schrank zerren, abstauben, öffnen und auf seinem Grund eine alte Socke finden.

Auf den Boden kommen textile Kleineteile, wie Unterwäsche, um das Gerippe des Griffs auszugleichen. Wichtig ist, sagen Packprofis, die ebene Fläche. Das mag ja richtig sein, und lässt sich auch durchhalten, solange es nur um T-Shirts, Pullover, Hemden und von mir aus Bücher oder Aktenordner geht. Doch schon das erste Paar schwerer Herrenschuhe, sorgt für Unordnung und gefährlich Löcher. Mögen sie auf der Straße noch so stabilisierend wirken, beim Packen wären Flipflops oder Badelatschen einfach besser.

Ist er voll, Klappe zu. Wenn es nur so einfach wäre. Was „voll sein“ bei einem Koffer heißt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ist ein Koffer voll, wenn der versammelte Krempel eine leichte Erhöhung bildet, einem Hügel in der Toskana gleich, und sich der Deckel beim Schließen wie von selbst an seine Formen schmiegt. Oder ist ein Koffer nur dann voll, wenn sich zwei Vollmitglieder von Nutella Macht Süchtig e.V. auf den Deckel setzen, und den Reißverschluss mit der Rohrzange schließen müssen?

Schon bei den herkömmlichen Koffern war dies nicht einfach beantworten. Immerhin aber schien es nur eine Frage des persönlichen Geschmacks zu sein. Ein Polycarbonat-Koffer hingegen muss laut Verkäufer „richtig, also stramm“ gepackt werden, damit er, der Unzerbrechliche, nicht bricht. Für den Normalreisenden mag das kein Problem sein, für den Pendler zwischen Deutschland und Kenia schon. Denn üblicherweise lasse ich bei der Reise nach Deutschland viel Platz im Koffer, damit ich auf der Rückreise so schöne Dinge wie Waschmittel, Marmeladen-Einmachhilfe, Ikea-Lampen, Paddelbootpaddel oder auch Autoersatzteile hineinstopfen kann.

Kofferpacken heute ist Konzeptkunst, die sich dem formalen Diktat des Koffervolumens, den physikalischen Eigenschaften des Materials sowie dem zulässigen Gewicht des Reisegepäcks unterwerfen muss. Gefragt ist die kreative Lösung, die in einer Mischung aus dem Nützlichen, dem Notwendigen und dem Füllmaterial zu suchen ist. Die Frage, ob vielleicht doch noch eine Hose mehr hineinpasst, war gestern. Heute geht es um die Entscheidung, ob ich als Lückenfüller lieber gefaltete Getränkekartons aus Pappe, hochkomprimierte alte Zeitungen oder, und das ist eine echte Neuentdeckung, leere Mineralwasserflaschen aus Plastik verwende.

Der Zwang zur Unterwerfung setzt zunächst Kreativität frei, führt langfristig aber auch zur Revolution. Doch bis dahin ist noch etwas Zeit. Die neuen Koffer sind gepackt. Der Deckel geht gerade noch zu, der Reißverschluss schließt widerstrebend. Ich taste die Oberfläche ab auf der Suche nach Leerräumen. An einer Ecke gibt das Material deutlich nach. Soll ich nochmal öffnen und nachbessern?

Ach, was. Ich liebe die Gefahr. Außerdem hat der Koffer zehn Jahre Garantie. Doch was nützt das schon, wenn es zum Koffer-Gau kommt und er seinen Inhalt aufs Transportband erbricht. Die Sicherheitsleute am Flughafen sehen staunend den leeren Flaschen nach, die in alle Richtungen davon rollen. Ich will nicht in die Geschichte eingehen als derjenige, der zwischen Kenia und Deutschland Pfandflaschen hin und her fliegt. Außerdem wird mir das sowieso keiner glauben, später beim Verhör. Wer sind ihre Hintermänner? Appolinaris, St. Pellegrinio? Klingt wie Decknamen einer religiös motivierten Geheimorganisation.

Diese und andere Gedanken habe ich während ich eingepfercht in der Holzklasse sitze. Die Knie des Hintermanns im Kreuz, die Lehne des Vordermanns im Gesicht, den Kopf des Nebensitzers auf der Schulter. Früher mochte ich Fliegen nur ganz generell nicht. Heute muss ich mich noch um meinen neuen Koffer sorgen, und ob er auch den Strapazen der Reise gewachsen sei. Während dessen steht der alte beleidigt im Keller und sinnt auf Rache. Unruhig wälze ich mich hin und her. Das nächste Mal nur Handgepäck, schwöre ich mir, nur Handgepäck.