Das Blog schweigt. Weil: Der Blogger ist verreist, von Kenia nach Deutschland. Dort entmottete er vergangene Woche seinen 22 Jahre alten BMW, der in der Garage Dornröschen spielt. Alle halfen mit. Meine Mutter versicherte den Wagen, meine Schwester fuhr ihn zu einem günstigen Mechaniker und mein Vater brachte ihn zum TÜV. Die Herren dort freuten sich über den guten Zustand und verliehen ihm die Plakette. Die Deutschlandreise konnte losgehen.
Deutschlandreise heißt für mich normalerweise Familie & Freunde besuchen sowie Behördengänge und Doktorspiele. Die Ärzte ließ ich diesmal aus und konzentrierte mich auf die Amtsstuben. Doch das Expat-Dasein lässt mich allmählich aus den Akten verschwinden. Keine Meldebehörde kennt mich, kein Finanzamt will Geld oder Erklärung. Also waren auch die Besuche bei den peniblen, aber freundlichen Sachbearbeitern schnell erledigt.
Ich fahre von Süden nach Norden, im Auto. Ich erwähne das, weil ich etwa zehn Jahre lang weitere Strecken eigentlich nur mit der Bahn zurückgelegt habe. Der Speisewagen im ICE war meine Heimat, mein Büro, meine mobile Denkzelle, in der ich von jeder Ablenkung befreit so wundervoll nachdenken konnte. Der Mitropa-Kaffee mein Treibstoff. Seine kräftige Säure und diese gewisse, auch durch massive Zugabe von Milch nicht zu bändigende Schärfe im Abgang war stets ein Weckruf. An den Gaumen, den Magen und an jene Bereiche im Gehirn, die für Träume zuständig sind. Träume von Eurocity-Zügen aus Österreich, wo es im klassischen Ambiente guten Kaffee gab.
Österreichische ECs scheint es kaum mehr zu geben, und der Mitropa-Kaffee heißt auch nicht mehr so, ich weiß. Doch der Name weckt nostalgische Erinnerungen. Zum Beispiel an das implodierende Croissant, das ich vor einigen Jahren als Frühstück serviert bekam. Äußerlich machte das Gebäck einen guten Eindruck. Es war braungebrannt, füllig und fühlte sich seltsam straff an, als ich es in die Hand nahm. Wie gewohnt, wollte ich ein Stück davon abbrechen, doch es brach nicht. Auch ließ es sich weder drücken, noch biegen, noch sonst irgendwie verformen, jedenfalls nicht mit jenem Kraftaufwand, den ich üblicherweise aufbringen muss, um ein Croissant zu verzehren.
Die Straffheit offenbarte sich meinen tastenden Händen als unnachgiebige, betonartige Härte. Es war wie eines dieser lebensechten Lebensmittel, mit denen Dekorateure in Möbelhäusern heimelige Atmosphäre herstellen. Ich drückte etwas stärker, nun knirschte es leicht. Einzelne Partikel des Blätterteigs fielen auf den Teller, so wie Dachziegel von einem Haus, das von einem leichten Erdbeben erschüttert wird. Weisere Menschen als ich hätten dies als böses Omen gewertet und vielleicht ein neues Croissant bestellt. Ich aber hatte einfach Hunger. Außerdem fing ich an, die Sache persönlich zu nehmen.
Wenn ich alleine frühstücke, bin ich normalerweise ganz bei mir selbst. Ich beiße ins Brötchen, nehme kleine Schlucke und denke an irgendetwas oder halte mein Hirn so gut es geht im Leerlauf. Auf jeden Fall ist mir die Außenwelt ziemlich schnurz. Nach einigen Minuten stillen Kampfes mit dem Croissant, begann ich an mir und meinen Fähigkeiten, den Blätterteíg zu bändigen, zu zweifeln. Irgendwann gesellte sich zu meiner wachsenden Frühstücksdepression auch die Außenperspektive. Ich fragte mich, ob die anderen Leute im Speisewagen mein Versagen mittlerweile bemerkt hatten.
Der Herr am Tisch schräg gegenüber hatte vorher seine Zeitung vor dem Gesicht gehalten, nun war sie halb gesenkt. Ich schaute nicht direkt hinüber, sondern versuchte aus den Augenwinkeln zu ergründen, ob er mich beobachtete, oder nicht. Wie musste das auch aussehen? Da fingert einer minutenlang an einem Croissant herum, hebt es hoch, betrachtet es von allen Seiten, und drückt dann weiter auf es ein. Mit Essen spielt man nicht. Pervers. Die Geräuschkulisse im ganzen Speisewagen schien in den vergangenen Minuten nachgelassen zu haben. Die Stille war unerträglich.
Dann begann das Croissant mit mir zu sprechen, oder sagen wir: zu kommunizieren. Ich schwöre, es grinste mich an, was Croissant ja tun, wenn man sie, die Spitzen nach oben gedreht, vor sich hält. So schwebte es vor mir, wie das entpersonifizierte Grinsen aus Alice im Wunderland, und flüsterte, Schwächling, Schwächling, oder so etwas. Jetzt reichte es. Ich dachte diesen Gedanken, den ich immer denke, wenn sich eine einfache Sache schlecht anlässt und alle Versuche, die Situation zum Guten zu wenden, sich in einen Abwärtsstrudel verwandeln. Ich denke dann immer, und man muss sich den Ton dieses inneren Monologs extrem weinerlich und selbstmitleidig vorstellen: „Aber eigentlich wollte ich doch nur…“
Aber eigentlich wollte ich doch nur ein Croissant frühstücken. Also nahm ich es hoch, in beide Hände, und drückte, presste, fester, und immer fester, bis das Croissant mit einem bröckelnden Knall in sich zusammenbrach. Das geschah so schnell, dass meine Hände noch sekundenlang die Form des Croissants nachahmten, als es längst nicht mehr existierte. Normalerweise bleiben von zerstörten Dingen genug Teile übrig, die auch der Zerstörung noch auf die ursprüngliche Form schließen lassen. Doch diese Vernichtung war komplett, das störrische Ding war wie ausradiert. Wie eine Sicherheitsscheibe im Auto hatte es sich in mehrere hundert kleine und kleinste Teile zerlegt, die als trauriges Häufchen auf und rund um den Teller lagen.
Nichts davon erinnerte an ein Croissant, höchstens an ein dreidimensionales 5000-Teile Croissant-Puzzle. Kein Stück war groß genug, um auch nur ein Milligramm Marmelade darauf zu schmieren. Wieder aufgebackene Brötchen zeigen ja tatsächlich eine gewisse Neigung zum Bröseln. Doch diese Implosion ging weit darüber hinaus. Sollte mir Mitropa ein Croissant serviert haben, das nicht einmal, nicht zweimal, sondern vielleicht dreimal aufgebacken worden war? Ich habe es nicht erfahren. Als ich mich beschwerte und ein neues verlangte, gab es keines mehr. Ersatzweise gab es Brötchen, die sind, wie Brötchen sind, langweilig.