London blieb sich treu. Als ich ankam, geriet ich in den Streik der öffentlichen Verkehrsmittel, und um mich herum, der durch Gepäckklötze an Armen und Schultern zur Unbeweglichkeit verdammt war, brandeten die eiligen Engländer. Als ich ging, dachte sich das Wetter einen noch tolleren Spaß für mich aus, und sorgte dafür, dass mein Flug gestrichen wurde. Wieder stand ich da, so schwer, so starr und so dümmlich glotzend wie einer der Steinköpfe auf den Osterinseln.
Mit dem Abstand einiger Tage wird vieles, was einem widerfährt, heiter. Deshalb denke ich heute versonnen lächelnd an mein erstes Gespräch in der langen Warteschlange vor dem Checkin zurück, als ich, noch naiv hoffend, den Nebenmann fragte, was denn hier eigentlich los sei. Es war Freitag, und eben, 20 Minuten vor Abflug, war die Anzeige auf der Informationstafel von “Waiting” auf “Enquire Airline”, also “Bei der Fluggesellschaft nachfragen” gesprungen. Etwas weiter unten, ich sah es erst nach ein paar Minuten, stand, man solle sich zum Gate begeben, weswegen ich nun dort wartete.
Der Angesprochene antwortete in recht breitem Hessisch, ich solle mir keine Sorgen machen, das sei hier immer so. Er habe schon vor einigen Tagen von der Insel weg gewollt und stünde hier schon zum vierten Mal. Und was nun, fragte ich. Gleich, meinte er und deutete nach vorne, würden wir über eine kleine Treppe in Ankunftshalle geleitet werden, wo wir unser Gepäck von den Bändern klauben könnten. Und das ist alles, fragte ich, weil ich dachte, da müsste noch was kommen. Ach ja, meinte er, und der Steward dort vorne, der einen die Treppe hinunterschicke, der wünsche einem noch „Good Luck“.
Die Schlange rückte auf, ich kam dem Steward näher, fragte ihn, wie es jetzt weiter ginge, worauf er auf die Treppe deutete und mir „Good Luck“ wünschte. Eigentlich wollte ich noch protestieren, aber die Menge drückte vorwärts und abwärts ging‘s. Unten war nirgends angezeigt, wo die vor zwei Stunden sinnlos aufgegebenen Koffer wieder zum Vorschein kommen würden. Also besuchte ich den Informationsschalter, wo ich die Nummer des Gepäckbandes erfuhr und außerdem, dass ich danach in Ebene 3/ Zone E gehen solle, um umzubuchen.
Mittlerweile war ich mit einem zweiten Herrn ins Gespräch gekommen, der mir, mit zünftigen bayrischen Kraftausdrücken garniert, mitteilte, er sei schon den zweiten Tag hier. Ich schien wohl etwas hektisch, weshalb er mich beruhigte und meinte, wir hätten jede Menge Zeit, weil das mit den Koffern dauern würde. Auch dieser erfahrene Weltenbummler hatte recht. Nur knappe eineinhalb Stunden später kollerten meine beiden Lieblings-Fitnessgeräte aufs Band.
EXKURS
Vielleicht ist dies der richtige Augenblick, um ein wenig über einen in meinen bisherigen Beiträgen nur gestreiften Aspekt des Lebens in Ghana zu sprechen – das Warten. Ein Beispiel: Die Bank, bei der ich ein Konto hatte. In der relativ großen Halle waren den Schaltern direkt gegenüber mehrere Reihen von Bänken aufgestellt. Egal zu welcher Tageszeit ich die Bank betrat, waren diese Bänke immer voller Menschen, die warteten. Ich habe nie herausgefunden, worauf, denn eigentlich gab es noch eine Warteschlange für Stehende, an der ich mich natürlich anstellte. Wenn ich dann nach fünf, zehn oder fünfzehn Minuten fertig war, saßen dieselben Leute immer noch auf den Bänken – und warteten.
Anderes Beispiel: Handwerker, die bezahlt werden wollen. Als wir in unser Haus einzogen, wurde auf Kosten des Vermieters das Parkett noch einmal abgezogen. Der Chefhandwerker schickte seine Leute nach getaner Arbeit gegen zwei Uhr nachmittags nachhause, setzte sich auf die Terrasse und wartete auf sein Geld. Die Zeit verging, ich sah hin und wieder nach ihm. Erst trank er Wasser, das ich ihm angeboten hatte, dann sah ich ihn mit dem Handy spielen, und schließlich schlief er tief und fest. Der Vermieter kam um sechs Uhr abends.
Letztes Beispiel: Mein Termin bei der Pressesprecherin eines ghanaischen Ministers. Wir waren um 10 Uhr verabredet, ich saß pünktlich Ihrem Schreibtisch gegenüber, nur sie war nicht da. Gegen 12 Uhr kam sie gut gelaunt zur Türe hereintrudelt. Was ich damit sagen will: Warten? Kenne ich.
EXKURS ENDE
Mittlerweile hatte ich ein dritter Geschäftsreisender hinzugesellt, und wir Vier waren jetzt so etwas wie Frodo und seine Kumpels bei „Herr der Ringe“ – auch weil meine Füße vom vielen Stehen schon Hobbit-artige Formen angenommen hatten. Die Aufgabe unserer kleinen Bruderschaft war es, einen Flug am nächsten Tag zu buchen sowie ein Hotel für die Nacht zu organisieren. Das Land Mordor, das wir dazu aufsuchen mussten, war Ebene 3/ Zone E des Heathrow Airports in London.
Der finstre Herrscher dieses Landes hatte sich der Sache ganz offensichtlich persönlich angenommen, denn dort gab es etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte: eine Vorschlange. Eine Vorschlange ist eine Schlange, die man hinter sich bringen muss, um sich erst danach in die eigentliche Warteschlange einreihen zu dürfen. Es war grauenhaft: Die Menge der Fluggäste, die genau dasselbe Ziel hatten wie wir, war unüberschaubar, unsere Geschwindigkeit übertraf den Drift der Kontinentalplatten nur unwesentlich, und die prognostizierte Ankunftszeit am Schalter war etwa vier Stunden später.
Schon wollte ich alle Hoffnung fahren lassen, doch das neue Mitglied unserer Bruderschaft der Umbucher hatte etwas, das mir neuen Willen gab: eine schlechte Kopie eines Informationsblattes. Er, der nun auch schon den dritten Tag hier war, hatte es vor zwei Tagen von einer Mitarbeiterin der Fluglinie bekommen. Auf dem Blatt, das uns wie eine Schatzkarte schien, waren einige Telefonnummern vermerkt sowie die Regelung, welche Kosten für Hotel, Essen und Transport übernommen würden, falls ein Flug ausfallen sollte.
Synchron griffen wir zum Telefon, und landeten natürlich in einer niemals endenden Warteschleife, die wahre Hölle der Moderne. Wie alle Warteschleifen heutzutage begann sie mit Worten, dass das Gespräch möglicherweise zur Qualitätssicherung aufgezeichnet werden würde. Ich kann kaum sagen, wie sehr ich mir nach 15 Minuten Wartens wünschte, all die schönen Dingen, die ich in diesem Moment zu sagen hatte, auf ein qualitätssicherndes Aufnahmegerät brüllen zu dürfen.
Die anderen Herren, allesamt Geschäftsreisende, riefen daraufhin die Notdienste Ihrer Firmenreisebüros an (was es nicht alles gibt), ich Privatreisender war natürlich wieder blöd dran. Immerhin erfuhr ich so von verschiedenen Hotels um den Flughafen herum, sodass wir nach ein paar Minuten jeder ein Zimmer für die Nacht hatten.
Wir verließen den Flughafen, jeder in ein anderes Hotel, und die Bruderschaft der Umbucher zerbrach. Wie um meine neu erworbene Fähigkeit zu Warten zu vertiefen, dauerte es noch 50 Minuten, bis der Shuttle-Bus eintraf und weitere 40 Minuten, bis ich das Hotel erreichte, das unverdienterweise das Wort „Airport“ im Namen trug, obwohl es von diesem etwa gleich weit entfernt zu sein schien, wie vom nächsten Seehafen.
Eine letzte Prüfung wartete noch. Vor der Rezeption fiel mir der Geldbeutel herunter. Als ich ihn aufheben wollte, stieß ich meinen Koffer um, der einen weiteren umschubste, dessen ausgezogener Rollgriff genau in die Mitte zweier mit einem dicken Band verbundener Absperrungspflöcke aus Metall fiel, die wie lebendig geworden aufsprangen und mit solchem Scheppern zusammenprallten, dass die gesamte Lobby zusammenzuckte und genervt herüberstarrte. Ich war gerade wegen des Geldbeutels in die Knie gegangen und schaute, als ich mich wieder erhob, von unten in das von tiefem Mitleid verspannte Gesicht der Rezeptionistin.
Fünf Stunden, nachdem mein Flug gestrichen wurde, und neun, nachdem ich zu dieser Reise in London aufgebrochen war, war ich wieder in London angekommen. Auch in “Herr der Ringe” lautet der letzte Satz: “Da bin ich wieder.”