Die Vögel

Lieber Markus,

war Alfred Hitchcock irgendwann einmal in Ghana? Keine Ahnung, aber fahre ich morgens über die “Thirtyseven”, eine der größten Kreuzungen in Accra, glaube ich es sofort. Dort kreisen hunderttausende von Vögeln über Bäumen, von denen sie nachts – Krallen aufwärts – herabhängen. Da staunt auch der Nicht-Ornithologe. Kralle aufwärts? Hängen? Genau. Es sind nämlich gar keine Vögel, sondern Flughunde.

Accra bietet vielen Tieren ein zuhause. Allein in unserem Garten wohnen gefühlte fünf Trilliarden Ameisen. Einige machen leider auch Hausbesuche. Eine stark frequentierte Ameisenstraße führt unter der Küchentüre hindurch, den Herd hinauf, quer über die Arbeitsplatte, dann schrägt die Wand hoch, auf halber Höhe auf den Kacheln entlang, und dann senkrecht von oben auf den Mülleimer. Eigentlich wollte ich sie längst abgemurkst haben. Doch das hiesige Ameisengift wirkt wie Duschgel mit Frühlingsaroma. Damit besprüht, schütteln sich die Tiere kurz und rennen dann sichtlich erfrischt weiter.

Von den Ameisen abgesehen, geht es im Garten zu wie im einem guten Zoofachgeschäft. Gesichtet wurden bereits so genannte Grasscutter. Sie sehen aus wie 60 Zentimeter lange, freundlich dreinblickende Ratten. Genützt hat ihnen die Freundlichkeit nichts. Unser Wächter haben sie aufgegessen.

Einmal glaubte der Nachbar, in seinen Bäumen wohnten Schlangen. Also ließ er sie kurzerhand fällen. Die Bäume fielen auftragsgemäß um und landeten mitsamt den Schlangen in unserem Garten. Ob es sie nun gab oder nicht, war nicht wichtig. Der Gang durchs Grün war danach ein paar Wochen lang viel spannender als vorher. Glauben ist schließlich alles.

Und Vögel gibt es, Vögel! Einer begrüßt den Tag mit hysterischen Lachanfällen. Ein zweiter ist wohl depressiv. Er singt immer so etwas wie “Rin-Tin-Pan”, wobei das Pan deutlich tiefer und im Moll liegt. Ein dritter erfreut uns mit einem – in Ton und Frequenz – absolut gleichmäßigen Piepen. Erst glaubten wir, im Garten läge ein unsichtbares elektronisches Gerät. Dann hatten wir den hingepfuschten Elektrozaun im Verdacht. Der Kollege könnte jedenfalls selbst von Deinem einsamen Moskauer Sängerknaben noch etwas lernen.

Auch Flughunde zischen nachts vereinzelt im Tiefflug durchs Geäst hinter dem Haus. Die Masse bleibt aber der “Thirtyseven”-Kreuzung treu und verdunkelt dort Morgens und Abends den Himmel. Dazwischen hängen sie dicht an dicht in den Bäumen ab. Nur manchmal nicht, dann sind sie alle weg. Verschwunden, kein Flattern, kein Kreischen, Bäume und Himmel – leer.

Natürlich wollten wir ihr rätselhaftes Dasein ergründen. Also fragten wir die Einheimischen, woher die Flughunde kommen, warum sie ausgerechnet hier leben und wohin sie manchmal verschwinden. Es folgte eine dieser wundervollen ghanaischen Geschichten. Sie handelt von einem Chief, also einem der vielen Könige, die in Ghana parallel neben dem Staat über Land und Leute herrschen.

Dieser Chief erkrankte eines Tages. Man lieferte ihn in das Militärkrankenhaus ein, das an jener Kreuzung liegt. Angezogen von seiner spirituellen Kraft, oder so ähnlich, folgten ihm die Flughunde und harrten in den Bäumen seiner Genesung. Doch der Chief verstarb. Seit diesem Tag warten die Flughunde dort. Meistens, jedenfalls. Worauf, wissen wir nicht.

Vielleicht funktioniert die Sache so wie bei der Sage vom Kyffhäuser. Vielleicht verschwinden die Tiere ab und zu, um den Chief hervorzulocken. So wie es scheint, schaut er im entscheidenden Moment aber nicht hin.

Viele Grüße aus Accra,

Michael