Neulich war ich Kamikazepilot. Ich machte meinen Frieden mit mir selbst, verabschiedete mich tränenreich von Frau, Familie, Freunden und bestieg, ohne im Besitz eines gültigen Tickets zu sein und überdies noch ohne gültige Bahncard, den ICE von Frankfurt in Richtung meiner kleinen schwäbischen Heimatstadt. Dort setzte ich mich in den Speisewagen, bestellte einen Kaffee und wartete auf das Ende.
Ich war so fatalistisch eingestellt, weil ich kürzlich zwei Geschichten über die Deutsche Bahn gelesen hatte. In der einen, schon ein paar Jahre her, hatte eine Kontrolleurin eine Minderjährige mitten in der Nacht bei Eiseskälte aus dem Zug geworfen, es fehlten zwei Euro für die Fahrkarte. In der anderen, erst kürzlich, musste eine komplette Schulklasse inklusive Schwerbehinderter den Zug verlassen. Die Lehrerin hatte vergessen das Gruppenticket abzustempeln.
Dies hatte mich schwer beeindruckt. Mit welcher Strafe hatte ich wohl zu rechnen, wenn nicht einmal frierende, schutzlose Minderjährige und schwerbehinderte Schüler das Herz der Bahnmitarbeiter hatten erweichen können? Auf Schiffen nennt man Reisende ohne gültigen Fahrausweis blinde Passagiere. Früher wurden die einfach über Bord geworfen.
Mir fiel diese Extratür im ICE-Speisewagen ein, durch die an Bahnhöfen der Nachschub an Essen und Getränken zugeladen wird. Vielleicht gab es dort mittlerweile eine ausfahrbare Planke, von der Reisende mit solch schweren Vergehen wie dem meinen bei 260 km/h abspringen müssen. Der Zugführer würde die Aktion per Durchsage ankündigen, der Speisewagen sich füllen, es würden Bier und Bratwürstchen gereicht, und unter Johlen des zahlenden Publikums segelte ich von hinnen. Wie ein aus dem Fenster geworfenes, ungültiges Ticket.
Ich saß da und litt Qualen. Normalerweise brachte ich mich nicht so einfach ausweglose Situationen wie diese. Doch lag hier, wie oft bei großen Katastrophen, eine Verkettung unglücklicher Umstände vor.
Einige Monate zuvor hatte ich mir anlässlich einer kurzen Deutschlandreise die Bahncard online gekauft und war mit der selbstausgedruckten Vorläufigen umhergefahren. Die echte Bahncard war zwar ein paar Tage später an meine deutsche Postadresse geschickt worden, allerdings war ich da schon wieder nach Kenia gereist.
Nun hatte der Weihnachtsurlaub angestanden. Die vorläufige Bahncard war mittlerweile ungültig, die echte lag in Deutschland. Um an sie heranzukommen, musste ich nach der Landung in Frankfurt ja erst einmal nachhause fahren. Ein Dilemma. Natürlich hätte ich einfach den vollen Preis zahlen können. Aber das sah ich nicht ein. Schließlich hatte ich ja eine Bahncard. Nur eben nicht bei mir.
Um wenigstens irgendetwas in der Hand zu haben, hatte ich meinen Vater gebeten, das Original für mich einzuscannen. Den Ausdruck samt Rechnungsbeleg führte ich nun als Beweisstück mit mir, was, zugegeben, angesichts der langen und sehr expliziten Beförderungsbedingungen, ein echter Kindergedanke gewesen war.
Und das Ticket? Wie üblich hatte ich es am Morgen der Abfahrt online über die Bahn-App auf dem Smartphone kaufen wollen. Noch vor einigen Monaten hatten unsinnigerweise zwei Bahn-Apps existiert, eine, um die Verbindung zu suchen, die andere, um das Ticket zu kaufen. Dass mittlerweile beide zu einer App zusammengefasst worden waren, wusste ich nicht.
Nachdem dem Ticket-Kauf schaute ich in der Ticket-App nach, ob es auch wirklich vorhanden war. War es nicht. Kein Problem. Ich loggte mich auf bahn.de ein und ließ mir das Ticket zusätzlich per SMS aufs Telefon schicken. Die Nachricht kam, ich prüfte sie und fand, dass der Anhang überhaupt nicht nach Ticket aussah. Da ich den Zug erwischen musste, konnte ich mich aber nicht weiter damit beschäftigen, sondern rannte los.
Als der Kontrolleur kam, war der Kaffee schon kalt. Er bat mich um mein Ticket. Ich begrüßte ihn mit den Worten „Jetzt wird es gleich ein bisschen kompliziert“. Dazu versuchte ich ein gewinnendes und doch demütiges Lächeln und hoffte, dass er mir, wenn ich gleich die Karten offen auf den Tisch legte, wohlgesonnen sei.
Ich erläuterte die Situation. Die ausgedruckte Bahncard lag vor mir auf dem Tisch. Die hätte er schon gesehen, als hereinkam, sagte er. Das sei ein Problem, aber nun wolle er sich erst einmal um das Ticket kümmern. Ich zeigte ihm das Telefon. Nein, das sei kein gültiges Ticket. Allerdings gab er zu, dass die Nachricht echt sei und auch bestätige, dass ich ein Ticket erworben hätte. Und die Sache mit der Bahncard, da wisse er jetzt gerade auch nicht Bescheid. Da müsse er erst einmal nachfragen.
Nun mischte sich der Herr ein, der mir am Tisch gegenüber saß. Zurückgegeeltes Haar, schicker Anzug, Hemd, kleine schwarze Fliege, irgendwas mit Oper, würde ich sagen, denn er hatte bisher mit einem Leuchtmarker ausführlich in einer Partitur und einem Libretto herumgemalt und dabei über Kopfhörer schmetternde Orchestermusik gehört.
Opernmann nahm die Kopfhörer ab, die Musik schmetterte weiter, und sagte, das sei ihm auch schon einmal passiert, da müsse man den vollen Preis bezahlen und dann später unter Vorlage der Bahncard den überzahlten Betrag zurückfordern. Ich fragte mich, wie er trotz lauter Musik meiner Diskussion mit den Bahnmitarbeiter hatte folgen können.
Der Bahnmitarbeiter wiegelte ab., Ja, so oder so ähnlich sei das, aber, wie gesagt, er müsse sich da erst einmal erkundigen. Mit diesen Worten wendete er sich den anderen Fahrgästen zu und verschwand nach einer Weile durch die Türe in den nächsten Waggon. Der Herr mit den Opern setzte die Kopfhörer wieder auf, ich las in meiner Zeitung, nippte am kalten Kaffee und wartete ab.
In Afrika, genauer gesagt in Ghana und Kenia, ist mir mehrfach eine mir bis dahin unbekannte Methode begegnet, Probleme zu lösen. Sie funktioniert so, ein Beispiel nach einer wahren Begebenheit: Im Haus ist ein Wasserrohr gebrochen, ein Klempner muss her. Ich rufe einen, der sich die Sache besieht, die Wand aufstemmt und dann Ersatzteile besorgen will. Ich gebe ihm Geld, er geht, kauft die Teile, kommt zurück und deponiert sie vor der betroffenen Wand.
Dann sagt er, er müsse jetzt nochmal weg. Morgen käme er aber wieder. Am nächsten Tag kommt er nicht. Ich rufe ihn an. Er nimmt nicht ab. Ich rufe wieder an. Vergeblich. Und wieder. Auch am nächsten Tag. Und am Tag danach. Irgendwann gebe ich auf, recherchiere im Internet und repariere selbst.
Monate später klingelt das Telefon. Der Klempner ist dran. Ob alles in Ordnung sei. Er hätte gerade nichts zu tun, ob wir vielleicht etwas zu reparieren hätten. Ich sage, Moment mal, was denn das damals war, warum er nicht mehr zurückgekommen sei. Er sagt, ja, haha, naja-naja, also so was, und ob ich denn jetzt vielleicht nicht doch etwas für zu tun hätte.
So ist mir das mehrfach passiert. Es muss dort einen automatischen Verjährungsmechanismus geben, der dafür sorgt, dass Probleme nach einer gewissen Zeit einfach und rückstandsfrei von selbst verschwinden.
Ärgerlich ist, dass das auch noch stimmt.
Wie bitte?
Ich meine das ganz ernst.
Betrachten wir doch einmal die Fakten. Ich hatte einen Wasserrohrbruch und rief einen Klempner. Er kam und brachte Ersatzteile. Dann kam er nicht mehr, schließlich reparierte ich selbst. Was zählt ist das Ergebnis. Ist das Rohr vielleicht noch gebrochen? Nein? Na, bitte! Außerdem kann ich nun Wasserrohre selbst reparieren. Ich müsste dem Mann dankbar sein.
Nach einiger Zeit, fiel mir auf, dass der Bahnmitarbeiter nicht wiedergekommen war. Mindestens 30 Minuten waren vergangen. Ich schaute mich um, hatte kurzen Blickkontakt mit Opernmann. Dem war das wohl auch aufgefallen. Er lächelte und zuckte unter den Kopfhörern mit den Schultern. Die Fliege wackelte freundlich. Noch eine Viertelstunde Fahrzeit. Auch die verging, ohne dass der Mann von Bahn noch einmal zurückkehrte.
Erneuter Faktencheck. Obwohl ich keines von beiden vorweisen konnte, hatte ich ein Ticket gekauft und war Eigentümer einer Bahncard. Der Bahnmitarbeiter hatte die Wahl gehabt zwischen zwei Alternativen: Einer bürokratischen Orgie, an deren Ende ich, wie wahrscheinlich auch die gesamte Besatzung des Speisewagens, die Bahn gehasst hätte; und einer gewissen Lässigkeit, mit deren Hilfe sich die Sache zur Zufriedenheit aller von selbst erledigt hat. Er hatte sich offenbar für letzteres entschieden, das ist jedenfalls meine Interpretation der Dinge.
Es ist der 22. Dezember, sonntagmorgens. Während ich diese Geschichte schreibe, sitze ich zu Gast in einer Dachwohnung in München. Es wird warm, ich reiße für einen Moment die Fenster auf. Draußen singen die Glocken der unzähligen Münchner Kirchtürme. Ein anheimelndes Geräusch, das mir Aushilfsafrikaner die heimische Kultur um die Ohren schlägt. Es rührt mich an, ob ich will, oder nicht.
Advent, Advent, ein Lichtlein…, Tannenzweige, Christbaumkerzen, Lebkuchenherzen, Magenschmerzen, und Schnee (wenigstens vor den Webcams der Skigebiete). Das Fest der Versöhnung. Für den Moment habe ich mich versöhnt – mit Afrika und der Deutschen Bahn. Ich finde, das ist weit mehr, als man sich wünschen kann. Wahrlich, es weihnachtet sehr.