Lieber Markus,
eigentlich war ich genauso ein Fußballverweigerer wie Du. Nichts konnte mir mehr Wurst sein, als langweiliges Gekicke, hysterische Fans, dröge Kommentatoren und hirnerweichende Spieler-Interviews. Doch in Ghana ist ja bekanntlich alles anders, neuerdings auch meine Einstellung zum Fußball. Ich bekenne, ich bin ein Konvertit, zumindest zeitweise.
Tatsächlich hatte ich 1974 zum letzten Mal aktiv Fußball verfolgt. Es war WM, ich war zehn, und Paul Breitner sah sau-cool aus. Irgendwann danach begannen Fußballspieler, Anzug und Krawatte zu tragen. Das passte meiner Ansicht nach überhaupt nicht zu dieser deftigen Sportart. Zudem erinnerte das Spiel späterer deutscher Nationalmannschaften eher an Schach in Turnhosen. Ich ging also lieber ins Kino und verpasste so einen großen Teil normaler Sozialisation. In meiner fußballarmen Vorstellung von der Welt war bis vor kurzem der alte Müller, Gerd, ein weitaus aktiverer Posten als der neue Müller, Thomas.
Jetzt, ich sagte es schon, ist alles anders. Betrat ich während der vergangenen Monate meine ghanaische Arbeitsstelle, wurde ich immer und sofort in eine Diskussion über Fußball verwickelt. Was ich von Boateng, dem ghanaischen Ballack-Treter hielte? Ob die Deutschen besser oder schlechter als die Ghanaer spielten? Was wohl passiere, wenn beide Teams ins Endspiel kämen? Die Rolle des intellektuellen Fußballverweigerers, die ich in Deutschland so gerne gegeben hatte, existiert hier einfach nicht. Wer sich hier nicht für Fußball interessiert, gilt schlicht als Depp. Also musste ich mich äußern, und das Problem war, egal was ich sagte, ich musste es auch noch begründen.
Das Verhältnis zu diesem Sport ist hier einfach ein anders. Zwar wird sich mir niemals die freiwillige seelische Zugehörigkeit zu einem Verein wie Bayern München oder Manchester United erschließen. Aber der Stolz eines Ghanaers auf die afrikanische Weltmeisterschaft im Allgemeinen und die Black Stars, die Nationalmannschaft, im Besonderen hat schon fast etwas Ergreifendes, Heiliges – auf jeden Fall reißt sie mit. Einfach irgendwelche Plattitüden von sich zu geben, genügte also nicht, wenn ich mit zehn Ghanaern gleichzeitig diskutieren musste.
Irgendwann ertappte ich mich dabei, wie ich im Kreise der Kollegen bestimmte Spielszenen analysierte und irgendetwas von dynamischem Vorwärtsspiel, verhunzten Standardsituationen und elenden Schiedsrichterfehlern schwadronierte. Dabei erntete ich nicht einmal bedauernde Blicke, so wie das früher immer gewesen war, wenn ich versucht hatte bei Fußball „mitzureden“. Nach und nach konnte ich auch über komplizierte Dinge sprechen, wie Abseitsfalle oder Tordifferenz. Es war also geschehen: ich war zum Fan geworden.
Wahrscheinlich deshalb folgte ich auch der gerne der Einladung eines Freundes, der zum Halbfinale mich nebst dreihundert anderen Gästen in seinen Garten pferchen wollte. Die Gärten sind hier gewöhnlich etwas größer. Als ich etwas zu spät eintraf, blickte ich eine auf riesige Leinwand. Seltsamerweise war sie leer. Ebenso wie dreihundert Stühle, die davor säuberlich aufgereiht waren. Dafür standen nahe der Hauswand, dichtgedrängt wie Schafe bei Gewitter, etwa dreihundert Leute, die größtenteils das National-T-Shirt trugen und gebannt irgendwohin nach schräg unten schauten.
Dieses irgendwo schräg unten stellte sich als winziger Fernseher heraus, den der Gastgeber in seiner Verzweiflung herbeigeschafft hatte. Der Projektor funktionierte nicht. Entweder produzierte er gar kein Bild oder eines, das vier Meter große, rosafarbene Fußballer auf einem giftgrünen, scheinbar nur 20 Meter langen Platz zeigte. Selbst mit viel Phantasie wurde aus dieser Halluzination kein Spiel. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Natürlich auch, weil das deutsche Team wie unter dem Einfluss von ein paar Flaschen Wick Medinait spielte. Verloren haben sie dann ja auch noch.
Als ich nach Hause fuhr, bemerkte ich, was es heißt, Fan von irgendetwas zu sein. Man fürchtet sich vor dem kommenden Tag und den höhnischen Bemerkungen der anderen, die es schon immer besser gewusst haben.