…auch wenn es nicht immer hilft. Letzten Freitag gegen 11 Uhr, auf dem Weg vom Supermarkt nachhause. In einer Seitenstraße wartet ein Auto und fährt plötzlich los. Ich hupe, brülle, bremse, alles gleichzeitig. Vergebens. Mein dicker Geländewagen wirft die schmächtige Limousine locker von der Straße. Im Vorbeischleudern lese ich, was auf der jetzt sehr verbeulten Seite geschrieben steht: Kenya Police.
Niemand rammt gerne ein Polizeiauto. Auch in Deutschland würde man sich dabei irgendwie schlecht fühlen. In Kenia, wo die Polizei dafür bekannt ist, sich weniger am Gesetz, als am eigenen Geldbeutel zu orientieren, ist generell von jedem Kontakt zu den Beamten dringend abzuraten. Letztens fragte mich mal wieder unser Wächter darüber aus, wie das Leben in Deutschland so wäre. Ich sagte, bei uns könnte man die Polizei zu Hilfe rufen, zum Beispiel. Er lachte sehr lange und sehr laut.
Mit diesem Wissen springe ich aus dem Wagen, renne zum Polizeiauto, in dem sich nichts rührt und rufe durchs zerbrochene Fenster der Hintertür hinein: “Hallo, sind Sie verletzt?” Die Scheibe der Fahrertür ist getönt, ich sehe nichts, die Tür selbst ist verbogen, so sehr ich auch daran ziehe, ich kann sie nicht öffnen. Von drinnen kommt ein seufzendes “Ich bin okay.” Na, wenigstens bin ich kein Polizistenmörder. Ich stelle Warndreiecke auf, von denen man hier zwei an Bord haben muss, und warte.
Was nun folgt, dauert mehr als vier Stunden. In dieser Zeit telefoniere ich so viel, dass das Telefon glühend heiß wird und die Batterie versagt. Es treten auf elf Polizisten, die in verschiedenen Wellen an der Unfallstelle auftauchen und wieder verschwinden. Das Büro von E. schickt vier Mann eines Sicherheitsdienstes zu Hilfe, die wie meine Bodyguards um mich herumstehen. Passanten kommen und gehen und hinterlassen ihre Meinung. Und ein Freund erscheint auf wundersame Weise.
Hier die schönsten Momente zusammengefasst:
Polizist 1 (der Fahrer des Unglückswagens): Steigt aus, nachdem ich ihn von seiner Beifahrertüre aus dazu auffordere. Dann läuft er um seinen Wagen herum, betrachtet den Schaden und setzt sich mit hängendem Kopf auf den Randstein. Ich frage ihn wieder, ob er okay sei, er nickt nur abwesend.
Polizist 2: Trifft nach fünf Minuten zu Fuß ein. Er sei gerade dienstlich in einer anderen Angelegenheit unterwegs und nicht zuständig. Aber er wolle die Kollegen der nahegelegenen Polizeiwache rufen. Als nach fünfzehn Minuten immer noch niemand eingetroffen ist, hake ich nach. Er sagt, die Kollegen hätten Probleme mit dem Reifendruck ihres Wagens.
Polizisten 3 und 4: Kommen nach einer Stunde im Taxi an, eine Frau und ein Mann. Die Frau umrundet die Unfallstelle, beginnt zu telefonieren. Der Mann spricht mit dem Fahrer und beginnt, auf einem Notizblock eine Zeichnung zu machen. Ich halte mich fürs Verhör bereit, mit meinem Führerschein schon in der rechten Hand. Aber niemand will etwas von mir.
Wächter 1 und 2: Beide kommen aus nahegelegenen Grundstücken herbei und stellen sich jeweils an den Warndreiecken vor und nach der Unfallstelle auf. Sie beginnen den Verkehr zu regeln. Aus vorbeifahrenden Autos starren neugierige Gesichter.
Passanten 1 bis 8: Kommen vorbei, bleiben stehen, schauen, diskutieren, gehen weiter.
Polizist 5: Kommt auf einem Polizeimotorrad angefahren. Schaut sich die Bescherung an. Ich will ihn etwas fragen, er winkt ab und sagt, ich solle mich noch einen Moment gedulden.
Sicherheitsleute 1 bis 4: Kommen in einem martialischen Wagen an, feuerrote Bemalung, Gitter vor allen Fenstern, wie bei Mad Max. Sie tragen lange schwarze Mäntel und stellen sich neben mich. Der Älteste, der Chef, informiert sich erst bei mir, dann stellt er sich neben die fünf Polizisten, die miteinander auf Kisuaheli diskutieren.
Der wundersame Freund: Ein kleines Auto hält vor mir am Straßenrand an. Das Beifahrerfenster öffnet sich. Sami, ein guter Bekannter, streckt den Kopf heraus und sagt: “Na, wie geht’s, kann ich irgendwie helfen?”
Das seltsame daran ist: Sami ist blind.
Ich sage: “Sami, Du bist blind. Wie kannst Du wissen, dass ich hier stehe.”
Sami sagt: “Wusste ich gar nicht, aber mein Fahrer hat gesagt, da hat einer Ärger mit der Polizei, und ich dachte, wir halten mal und fragen.”
Ich sage: “Du kommst gerade recht. Vielleicht kannst Du mir kurz Dein Telefon leihen, bei meinem ist die Batterie leer.”
Sami steigt aus und stellt sich neben mich. Ich telefoniere mit Valerie und Prudence, kenianischen Freunden. E. ist auf Dienstreise. Valerie und Prudence rufen entsetzt “Eieiei” oder auch “Auweh-auweh, ausgerechnet ein Polizeiauto!” ins Telefon.
Der Ältere vom Sicherheitsdienst kommt wieder und erzählt, die Polizisten seien sich einig, dass ihr Kollege im Auto Schuld an dem Unfall habe. Zwei Stunden sind vorüber. Ich denke an die Milch, die im Kofferraum vor sich hin schmort.
Polizisten 6, 7 und 8: Kommen in einem echten Polizeiwagen an. Betrachten die Bescherung. Einer geht auf mich zu. Endlich, denke ich.
“Was ist passiert”, fragt er.
“Ihr Kollege ist mir in den Weg gefahren”, sage ich.
“Na, so einfach kann man das doch sicher nicht sehen”.
“Finde ich schon. Er hat es ja auch zugegeben.”
“Aber Sie wissen doch sicherlich, dass man in Kenia Polizeiwagen im Einsatz die Vorfahrt einräumen muss.
“Natürlich weiß ich das, aber er war nicht im Einsatz.”
Er lächelt spöttisch: “Und woher wollen Sie das wissen?”
Ich deute schlau auf die Blaulichter: “Dann hätten die ja wohl leuchten müssen.”
“Und wie wollen Sie beweisen, dass sie nicht geleuchtet haben?”
“Ich sehe schon, in welche Richtung das hier geht”, antworte ich.
“Wie dem auch sei, die beiden Autos müssten jedenfalls auf die Wache zur Inspektion.”
Ich rufe wieder Valerie und Prudence an. Beide beschwören mich, ich solle unter allen Umständen vermeiden, meinen Wagen bei der Polizei zu lassen. Hinterher würde die Hälfte fehlen, Außenspiegel, Räder, die Batterie, das Radio, und der Schaden wäre nur noch größer.
Ich schaue mal wieder auf die Unfallstelle. Der Höhepunkt der Flut ist erreicht: 8 Polizisten, 6 Passanten, 2 Wächter, 4 Sicherheitsleute, 1 Blinder und sein Fahrer plus ich. Macht 23 Leute. Wie ein kleines Straßenfest. Nur ohne Musik.
Ich kümmere mich um Sami, den Blinden, der die ganze Zeit wie angewurzelt am Straßenrand steht. Als ich mich umdrehe sind Polizisten 6,7,8 und 5 verschwunden. Und was ist jetzt mit meiner Inspektion?
Dafür kommt jetzt Polizist 1, der Unfallfahrer, auf mich zu. Er nimmt mich am Arm und deutet mit dem Kopf an, wir sollten uns mal gemeinsam ein Stück entfernen.
Er heißt Peter und sagt, er säße ganz schön in der Patsche. Wenn er den Unfall offiziell machen würde, wäre er vielleicht seinen Job los, aber auf jeden Fall würde man ihn im Rang zurückstufen. Deshalb schlägt er vor, ich solle mich um meinen Schaden kümmern, er würde das Polizeiauto auf eigene Kosten reparieren, und wir könnten die ganze Sache vergessen.
Ich mache innerlich einen Luftsprung. Keine Inspektion, kein Protokoll, keine Versuche der Polizei, die Tatsachen zu meinen Ungunsten zu verdrehen – großartig! Versuche aber dabei cool zu bleiben und sage, das sei sicherlich nicht die schlechteste Idee. Der Sicherheitsmann stellt sich dazu und findet das auch eine hervorragende Lösung.
Dann sagt Peter, er hätte da noch eine Bitte. Ob ich ihm denn vielleicht helfen könne. Der Schaden auf seiner Seite sei doch wirklich groß. Er hat recht: Bei ihm ist hintere Türe zerstört, das Fenster kaputt, die Mittelsäule eingedrückt, ebenso der hintere Kotflügel.
Und jetzt wird es vollends irre: Obwohl ich selbst keine Schuld und einen Schaden von geschätzt 500 Euro habe, greife ich in meine Hosentasche, wo sich ein Bündel Scheine befindet, und gebe es ihm. Warum? Vielleicht weil mir der Typ wirklich leid tut. Vielleicht. Die Situation ist so seltsam, dass ich selbst nicht weiß, warum ich das tue. Wir tauschen noch Telefonnummern aus, geben uns die Hand. Die Sache ist erledigt.
Der blinde Sami verabschiedet sich. Sein Fahrer führt ihn zu seinem Auto. Ich will gerade in meines einsteigen und davonfahren, da kommen Polizisten 9 bis 11 in einem schnittigen Polizeiwagen dahergefahren. Sie steigen aus, einer trägt einen Stab mit einem Metallkopf unter dem Arm und schaut sehr wichtig drein. Ohne Zweifel, das ist der ranghöchste von allen bisher.
“Moooment”, ruft er, so einfach ginge das ja nicht. Wir müssten den Unfall mindestens einmal zu Protokoll nehmen. Ich solle ihnen auf die Wache folgen.
Die Milch, die seit vier Stunden hinten im Kofferraum, gärt, ist bestimmt noch nicht so sauer, wie ich es jetzt bin. Aber was soll ich machen. Sämtliche noch fahrbereiten Autos und Motorräder setzen sich in Bewegung in Richtung Polizeiwache. Angekommen, werde ich angewiesen auf einem Hof voller Unfallwracks zu parken. Ich solle hier warten.
Die vier Sicherheitsleute in ihren langen schwarzen Mänteln und ich stehen herum und schauen uns die Schrotthalde an. Dann nähert sich ein älterer Herr. Es ist der Chef vom Dienst der Station, der schließlich allerhöchste Beamte des heutigen Tages.
Wir geben uns die Hand. Er schaut mich lange an. Dann will er wissen, warum ich seinem Beamten, dem Unglücksfahrer, geholfen hätte. Ich sage, und ich merke beim Sprechen, wie ernst es mir ist, dass er mir wirklich leidgetan habe. Ich glaube an meine eigene Geschichte von vorhin. Zwar hätte auch ich Schaden erlitten, aber seine Probleme seien jetzt viel größer als meine.
Schweigend umrundet er mein Auto, betrachtet den Schaden, kommt wieder zurück und fragt, ob ich vielleicht ein guter Christ sein. Ohne zu zögern sage ich “ja”. Schließlich habe ich vor über dreißig Jahren Konfirmationsunterricht genossen, und abgesehen davon: Wer will schon sagen, wer ein guter Christ ist, und wer nicht.
Aha, sagt der Chef vom Dienst, das sei dann wahrscheinlich der Grund für meine Selbstlosigkeit.
Nun dürfe ich gehen.
Ich gebe den Sicherheitsleuten noch ein Trinkgeld und fahre ab. Nach insgesamt fünf Stunden wieder zuhause, stelle ich die Milch in den Kühlschrank, lade ich mein Telefon auf und rufe Valerie und Prudence an. Ich will ihnen mittteilen, dass alles erledigt ist, dass weder ich noch mein Wagen in polizeilichem Gewahrsam sind, aber auch fragen, wie sie mein Verhalten bewerten.
Valerie sagt, sie sei sehr stolz auf mich, ich hätte das Ganze auf eine sehr kenianische Weise gelöst. Prudence meint, ich sei ja wirklich sehr großzügig gewesen. Aber Kenia sei viel kleiner als man denkt. Den Polizisten, dem ich heute geholfen hätte, träfe ich vielleicht schon morgen wieder, und dann würde er sich wohlwollend an mich erinnern. Und das sei hier im Zweifelsfall viel mehr wert, als im Recht zu sein.