Als ich den Beitrag meines Co-Bloggers Michael las, wie er versuchte per Google-Reisebüro mit dem Auto nach Moskau zu fahren, da bin ich sofort aufgesprungen. Ich rannte in den nächsten Supermarkt, denn bei seiner Ankunft würde er sicher durstig sein, und ich hatte kein Bier mehr im Kühlschrank. Die Filiale der Supermarktkette “Alphabet des Geschmacks” in meiner Nachbarschaft feierte gerade, wie offenbar im Rest der Welt auch, ebenso krampfhaft wie hysterisch Oktoberfest.
Man bot gerade zwölf Sorten bayerisches Bier an – die Flasche für 186 Rubel. Das ist praktisch derselbe Preis wie auf der Wiesn: 4,90 €. Eine freundliche Dame im russischen Dirndl (der Rocksaum kurz unterhalb der Pobacke) bietet den traditionellen russischen Snack zum Bier an: Wobla – Trockenfisch. Mumifizierter Steckerlfisch quasi.
Während ich so am Bierregal stehe und darüber nachdenke, was wohl “Laugenbrezeln” auf Russisch heißt, sagt jemand neben mir: “He Markus, ich habe neulich deine Stimme gehört.”
Ich drehe mich um und sehe Denis, einen Bekannten meiner Frau.
Wo hast du meine Stimme gehört? Und viel wichtiger: Warst du nüchtern?
“Sicher war ich nüchtern, und gehört habe ich dich im Fernsehen.”
Und was habe ich gesagt? – “Irgendwas mit einem Flammenwerfer. Ist doch seltsam oder?”
Ja, wirklich seltsam. Andererseits auch nicht. Denn bei den Worten “Fernsehen” und “Flammenwerfer” ist es mir sofort wieder eingefallen.
Es war April 2005. Vor vier Tagen war ich in Moskau angekommen. Ich war zum ersten Mal in Russland, sprach praktisch kein Russisch und war noch dabei die Umzugskartons auszupacken.
Meine Frau rief aus dem Büro an: “Du, hier rief gerade eine jemand von Mos-Film an. Sie brauchen deutsche Stimmen als Synchronsprecher für einen Kriegsfilm. Hast du Lust?”
Klar hatte ich Lust.
Meine Anweisung war, dass ich am nächsten Tag 12 Uhr an der Endstation der Metro-Linie 3 aussteigen und draußen am linken Eingang nach einem neuen blauen Renault suchen sollte. Darin werde eine Ludmilla sitzen. Ich solle einsteigen, denn sie brächte mich zum Filmstudio, wohin es noch ein ganzes Stück Weg sei, den man nur mit dem Auto zurücklegen könne.
Aha. Im Sprachkurs hatte man mir nicht die angemessenen Redewendungen für eine Geiselnahme beigebracht, und ich sollte am Stadtrand von Moskau alleine in das Auto einer unbekannten Ludmilla steigen?
Natürlich ging ich hin! Zumindest standen an einem Zeitschriftenstand ein paar Unbekannte, die sich auf Deutsch unterhielten. Ich sprach sie an und zu meiner Überraschung waren auch sie mit einer Ludmilla verabredet: Horst und Gerald. Auch sie sollten beim Film “irgendwas Deutsches” sagen.
Schließlich tauchte Ludmilla auf, die wiederum ihrer Chefin im Schlepptau hatte.
Sie ist Filmproduzentin und ihren Namen habe ich vergessen. Um ehrlich zu sein, hatte ich ihn mir erst gar nicht gemerkt, weil ich so von ihrem Outfit abgelenkt war: knallroter Spitzen-BH unter einer nicht geknöpften sondern nur notdürftig über dem Bauchnabel geknoteten weißen durchscheinenden Bluse und einer strassbesetzten D&G Jeans, die, der Passform nach zu urteilen, nur aufgemalt sein konnte. Wir fuhren im Konvoi: Horst mit seinem eigenen Lada. Ludmilla, Gerald und ich im Renault und die Produzentin mit nagelneuem getuntem VW Tuareg.
Nach etwa 20 Minuten kamen wie in eine Gegend, die man sonst als Kulisse für einen polnischen Film der späten 80er über Trostlosigkeit und Untergang verwenden würde: Schäbige bröckelnde Fabrikplattenbauten, Asphalt zwischen Schlaglöchern, streunende Hunde, Autowracks am Straßenrand, und dort wo wir anhielten, schlachteten gerade drei Typen in fleckigen Trainingsanzügen einen uralten Lada Shiguli aus. Hier war also das Filmstudio.
Wir mussten an einem Welche weiteren Grunde es dafur gibt, dass sich Blackjack seit Jahrzehnten auf dem Markt etablieren kann, das werden wir in den weiteren Teilbereichen dieser Rubrik genauer aufzeigen. uniformierten Wachmann vorbei, dann noch mehr streunende Hunde und im Gebäude war alles genau so schäbig wie draußen: schiefe Türen, ausgebohrte Schlösser und dunkle Gänge. Am Ende eines der dunklen Gänge war das Synchronstudio. Es waren drei hintereinanderliegende etwa 6 Quadratmeter große Räume. Zur Schallisolierung hatte man den Inhalt dutzender Teppichmusterbücher verlegt. Im ersten Raum standen drei verschiedene Stühle und ein niedriger Tisch. Darauf ein Wasserkocher, Wasserflaschen, Teebeutel, Nescafé, Kekse, Zucker und drei Tassen und ein übervoller Aschenbecher.
Drei Tassen – man hatte sich also auf die Ankunft von uns drei Gästen eingestellt.
Im zweiten Raum war die Tontechnik – alles nagelneu und vom Feinsten, und im dritten Raum hinter einer Glasscheibe der Sprecherraum mit Mikrofon.
Der Film basierte auf einem berühmten Roman, in dem ein Major der russischen Armee mit seinen Leuten in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät. Nachdem Stalin alle Rotarmisten, die sich in deutsch kontrolliertem Territorium (in diesem Fall Polen) in Gefangenschaft befinden, zu Kollaborateuren und zu „Feinden der Heimat“ erklärt hatte, wagen die Soldaten den Ausbruch Richtung Heimat um sich zu rehabilitieren. Der Ausbruch gelingt, aber zuhause werden sie in den Gulag gesteckt und sterben darin.
Zum 60. Jahrestag des Sieges über die Deutschen produzierte das Fernsehen den Vierteiler “Die letzte Schlacht des Major Pugatschow.” Im ersten Teil ging es um das Lager der SS und den Ausbruch. Und dafür wurden unsere Stimmen gebraucht. Nach einer kurzen Sprechprobe beim Regisseur entschied der, dass ich die Hauptrolle unter den Deutschen sprechen solle: einen arroganten, herablassenden Oberschweinehund von Totenkopf-SS-Standartenführer-General-Nazi, der das Gefangenenlager mit samt seinen 2000 Insassen mittels Flammenwerfern verbrennen wollte.
Ich war geschmeichelt.
Die russischen Schauspieler hatten die Dialoge zwar auf Deutsch gesprochen. Aber, wie das so ist, wenn man rein phonetisch einen Text spricht, den man selbst nicht versteht, kommt nur Unsinn heraus.
Sie hatten uns zwar eine Übersetzung der deutschen Texte gegeben, aber auch die waren Kauderwelsch. Dadurch wurde die Sache sogar noch einigermaßen anspruchsvoll: Denn am Ende schrieben wir die Dialoge und mussten aufpassen, dass das Ganze trotz völlig verändertem Text einigermaßen lippensynchron wurde.
Darüber hinaus machten wir auch noch die ganzen Füll- und Atmosphäretexte. Das heißt: Immer wenn ein Schauspieler mit deutscher Uniform im Bild war und die Lippen bewegte, oder aufgrund des Bildes etwas auf Deutsch gesagt werden musste, sollten wir improvisieren.
Haben wir auch fleißig. Was der Deutsche eben so sagt: „Los, los, schneller. Ich mach euch Beine ihr Schweinehunde!“
Längere Sätze gingen dann so: „Wozu haben wir eigentlich Frankreich besiegt, wenn es in diesem Scheiß Offizierskasino keinen ordentlichen Bordeaux zu trinken gibt.“ Oder „Mir graut schon vor Weihnachten, jedes Mal schenkt mir die Winterhilfe gestrickte Socken.“
Der Regisseur fand das sehr komisch.
Unser Amateurauftritt hat mir immerhin 120 Dollar eingebracht. Mein erstes selbst verdientes Geld in Moskau. Ich habe den ersten Zwanziger wie Dagobert Duck seinen ersten Kreuzer eingerahmt…