Es gibt wirklich nur wenige Städte auf der Welt in denen man an jedem einzelnen Tag der Woche aus zig Konzerten aussuchen kann. Montag: Whitney Houston. Dienstag: die sinfonischen Tänze von Rachmaninow. Mittwoch: Roxette. Donnerstag: Rammstein. Freitag Markscheider Kunst. Samstag: U2: Sonntag: Patti Smith.
Hunderte von Konzerten an Hunderten Orten. Vor Kurzem wollte ich ins „Kulturhaus“. Ein kleiner Klub hieß es, in dem diesmal Volksmusik aus Moldawien gegeben würde. Das machte mich neugierig. Schon deshalb, weil ich jeden Tag in meinem Innenhof Kirmestechno oder Robbie-Williams-Coverversionen mit russischem Akzent höre, wenn sich die Teenies aus der Nachbarschaft treffen um Bier zu trinken und ihre Hausaufgaben zu besprechen.
Ich war also gespannt darauf dicke Männer in bunten Kostümen zu sehen, die laute, hektische Blasmusik spielen. Dargeboten in einem prächtigen sowjetischen Volks-Kultur-Beton-Bunker aus den 60er Jahren.
Wir suchen also das Kulturhaus. Hier ist kein prächtiger Beton-Bunker. Passanten weisen uns den Weg, der in einen vermüllten Hinterhof endet. Hier gibt es nur eine einzige Tür. Gottseidank offen.
Drinnen verschlägt es mir die Sprache vor Staunen. Sprachlosigkeit und Verwirrung sind, wenn man der einschlägigen Literatur Glauben schenken mag, kein unübliches Symptom bei Zeitreisen.
Durch das Öffnen der Tür hatte etwas mein Raum-Zeit-Kontinuum verändert und als Endpunkt eingestellt: Zeit: drittes Semester Uni Konstanz 1989. Ort: ein alternatives Kulturzentrum namens Kulturladen.
Hier ist alles genau gleich! Sogar die Leute. Bloß dass hier alle russisch redeten. Die Kasse ist ein grauschwarz bemaltes Stehpult. Dahinter stempeln ein Henna-Mädel und ein langhaariger Ziegenbart, Eintrittskarten und Handrücken. Drinnen ein etwas heruntergekommener Raum mit Stuhlreihen für 150 Leute. Vorne eine selbst gezimmerte kleine Bühne, hinten eine selbst gezimmerte kleine Bar.
Genau wie damals!
Das Publikum – vielleicht 50 Gäste – war gemischt und dem Habitus nach zu urteilen: Volkshochschule, Uni, Jeansjackenträger, Schwarzelederhosen -Typen, eine Dame um die 50 Typ „Künstlerin“ (meine Begleiterin sagt, das sei eine bekannte Musikkritikerin) und ein blasiertes Mädel das dauernd mit einer halbprofessionellen Kamera hantierte. Klar: Lokalzeitung.
Wir hatten noch nichts gegessen und fragen an der Bar. Der Mann an der Bar, er war Mitte 20, sehr gedehnt sprechend, sehr umständlich Bier Learn how to play blackjack with the help of easy instructions. zapfend, Flaschen öffnend, hieß Boris und brüllte ins Hinterzimmer „heeeee, Oooolga, haaaaahm wia was zuessn?“
Olga, deren hängenden Augenlider ebenfalls kein allzuhohes hohes Arbeitstempo versprachen, guckte aus dem Fenster in der Tür hinter der Bar: „………waaaaaaas……..?“
Boris: „esn?“
Olga: „………………..Fischbrot, Wurstbrot, Käsebrot…..“ Olga drehte sich langsam um und verschwand.
Wir: „Auch was Warmes?“
Boris: „heeeee, Oooolga, ………………………………waaaahm auch?“
Olga: „……………………………………………………..“ dann „………………….Bratwurst mit Kartoffelsalat.“
Normalerweise hätte ich das bestellt, aber meine Begleiterin warnte mich. Das war schon zu Sowjetzeiten ein Klassiker des kulinarischen Grauens gewesen: zu gleichen Teilen Dosenwürstchen, Dosenerbsen und Mayonnaise mir Kartoffelstückchen, dazu Toastbrot.
Ein weiterer Gast erscheint und verlangte nach Essen. Boris hat inzwischen vergessen, was Olga gesagt hatte und brüllt wieder ins Hinterzimmer: „heeeee, Oooolga, haaaaahm wia was zuessn?“
Und alles begann von vorn. Wir bestellten also Brote mit Fisch und Käse.
Boris brüllte die Bestellung zu Olga, und wir vertrieben uns die Zeit mit vorzüglichem Bier: „Sibirische Krone“ vom Fass. Zehn Minuten später steckte Olga den Kopf aus der Tür: „Booooris, wie war noch mal die Bestellung?“ Das mit dem Essen konnte also noch dauern.
Inzwischen kletterte der erste Musiker auf die Bühne: dürr, Vollbart, lange wirre Locken bis über die Schultern, verwaschene Cordhose, verwaschenes Flanellhemd. Er packte erst eine Klarinette aus, dann eine Art Balalaika, die er sogleich zu stimmen begann.
Dann kammen die anderen. Der Schlagzeuger: dürr, Vollbart, lange Haare mit Pferdeschwanz, verwaschene Jeans, verwaschenes Flanellhemd. Der Saxofonist: dürr, Vollbart, lange blonde Haare, verwaschene Jeans, verwaschenes Flanellhemd. Der Bassist: dürr, Kinnbart, lange wirre rote Locken bis über die Schultern, verwaschene Cordhose, verwaschenes Flanellhemd.
Alle zwischen 25 und 35 Jahren alt. Die moldawische Kapelle.
Meine Begleiterin holte inzwischen neues Bier und fragte nach dem Essen. Sie kam ohne Teller zurück und sagte: „Nix Neues. Boris fragt bei jeder Bestellung Olga, was es zu essen gibt und Olga fragt dann jedes Mal Boris, was er vor fünf Minuten geordert hat. Das konnte dauern.“
Als meine Begleiterin die dritte Runde Bier holte, kam sie endlich mit den Tellern zurück, und die moldawischen Hippies machten die ersten Töne.
Was soll ich sagen? Die Kapelle war großartig. Sie spielten eine Art 70er Jahre Jazz – ein bisschen wie Deodato, bloß eben mit der Melodik einer moldawischen Hochzeitskapelle, oder wie Goran Bregovic oder Fanfare Giocarla.
Die Herren waren extrem virtuos, improvisierten zwischendrin immer ein bisschen und hatten reichlich Schmiss. Der Klarinettist war ein Meister und es war verblüffend, wie lange er spielen konnte, ohne neu einatmen zu müssen.
Auch der Schlagzeuger war prima und machte immer ein völlig unbeteiligtes Gesicht wie Charlie Watts von den Stones, nur dass der Moldawe ein sehr viel besserer Schlagzeuger war. Nach dem Konzert erfuhren wir, dass er in seinem “normalen Beruf”, wie er sagte, die fast ausgestorbene Kunst des „moldawischen Männergesangs“ pflegt und lehrt.
Es dauerte nicht lange, und die Musik ging dem Publikum in die Beine:
Das waren zunächst zwei Studentinnen – die eine mit ausgeprägtem Selbstdarstellungsdrang, weil sie sich von einer Freundin dauernd fotografieren ließ, und einem Tanzstil zwischen arabischem Bauchtanz und indischem Tempeltanz darbot. Eine andere tanzte im selben Stil, aber mit sehr viel aufreizenderen Bewegungen.
Das zog sofort zwei Männer an: der eine in schwarzer Lederhose, Bikerstiefeln und schwarzem Hemd, der andere ein blasser beige gekleideter mit Brille, der nach „freiem Abend im Priesterseminar“ aussah. Diese beiden vollführten einen Balztanz mit viel Absätzeklappern fast wie bei „Lord of the Dance“. Beide Tanzstile harmonierten sehr gut, sodass ich vermutete, es handele sich auch bei den Tänzern und Tänzerinnen um Moldawier. Der Eindruck verstärkte sich, weil die wenigen anderen Tänzer eher schüchtern am Rande tanzten und mehr der Pogo- oder der Goa-Fraktion zuzurechnen waren.
Nach dem Konzert ging es wieder hinaus in die Kälte und in die Gegenwart. Die Reise mit der Zeitmaschine war zu Ende. Vorläufig, denn den Laden will ich mir merken.
Ehrlich gesagt, würde ich jedem Moskau-Touristen viel eher einen Besuch in einen dieser kleinen Klubs empfehlen, als den Besuch des Bolschoi-Theaters. Ballerinen in Tütüs und Helden in Strumpfhosen gibt es schließlich überall.
Die Band für meinen nächsten Konzertbesuch heißt übersetzt: “Die eingefangenen Ameisenbären.”
Moskau rockt!