Gepeinigt vom dichten Qualm in Moskau, hat sich Co-Blogger Markus an den Bodensee geflüchtet. Dort, in Deutschlands Kalifornien, reinigt er die Lunge und gibt sich anderen erholsamen Vergnügungen hin. Da bleibt zum Bloggen keine Zeit, während ich gerade gar nicht weiß, wohin mit den Geschichten. Vielleicht, dachte ich heute Morgen, sollte ich anstatt dessen einmal das Wort an die Leserinnen und Leser selbst richten.
Unser bisheriges Blog war wie ein Tennisplatz. Aufschlag Markus, Return Michael, oder andersherum, und Ihr guckt zu. Wir berichteten von unseren jeweiligen Planeten, Moskau und Accra, beides Orte, denen es an Skurrilität nicht mangelt. Vielleicht muss es nicht gesagt werden, aber diese entsteht natürlich im Auge des Betrachters. Es fällt uns besonders das auf, was anders ist als zuhause, oder was nicht unseren Erwartungen entspricht.
Was mir Wahl-Frankfurter in Accra seltsam erscheint, ist den Ghanaern vollkommen normal. Diese Grenze zwischen Seltsam und Normal ist selbstverständlich subjektiv. Um sie zu erleben, muss man nicht unbedingt nach Afrika ziehen. Ich habe einmal eine Weile in Frankfurts Nachbarstadt Offenbach gelebt. Keine schlechte Übung.
Andersherum gilt das natürlich genauso. Wären die Ghanaer für eine Weile in Frankfurt, das Blog würde ich nur zu gerne lesen. Ein Exil-Ghanaer, der in London lebt, schrieb einmal eine herrliche Geschichte darüber, wie er anfangs im Supermarkt an langen Regalen voller kleiner, mit Katzenbildern verzierter Dosen vorbeiging und sich fragte, wer denn bloß all diese Katzen essen soll.
Je länger ich hier bin, desto mehr spaltet sich meine Persönlichkeit. Die eine Hälfte, ich nenne sie mal meinen Ghana-Avatar, weiß mittlerweile, wie er mit den Umständen hier umzugehen hat. Kommt ein Handwerker drei Stunden zu spät, regt mich das nicht mehr auf. Ich bin ja mittlerweile selbst nicht mehr zuhause und warte, sondern gehe anderen Tätigkeiten nach. Erst wenn der Klempner, Elektriker oder Schreiner anruft und sagt, er stünde jetzt vor dem Tor, kehre ich zurück. Das sollte ich mal in Deutschland versuchen.
Gerade fällt mir ein, dass ich das so ähnlich schon einmal erlebt habe. In einer lange vergangenen Dating-Episode verabredete ich mich immer wieder, vergaß aber hinzugehen. Ich schäme mich heute noch. Aber anstatt sich darüber groß aufzuregen, verabredete sie sich einfach weiter mit mir – und ging auch nicht hin. Während das Date also hätte stattfinden sollen, waren wir mit anderen Dingen beschäftigt und hatten ein schlechtes Gewissen. So haben wir damals schon die virtuelle Realität erfunden.
Der andere Teil von mir, das Deutschland-Ich, das sich mehr und mehr ebenfalls wie ein Avatar anfühlt, setzt sich später an den Rechner und gleicht die Wirklichkeiten miteinander ab. In manchen großen Organisationen gibt es die Regel, Auslandsmitarbeiter nach spätestens fünf Jahren nachhause zurückzuholen. Kann ich gut verstehen. Wie im Film läuft man Gefahr, das andere Leben mehr zu mögen, als das bisherige. Natürlich passiert das nicht mit Knalleffekt, sondern unmerklich, Schritt für Schritt.
Wozu dient also dieses Blog? Der Dokumentation der allmählichen Avatarisierung? Ich wollte darin kleine, möglichst heitere Geschichten verfassen. Vielleicht ist es aber nur ein Trick. Vielleicht ist es wie ein Dachboden, wo man die Dinge, die man dringend Aufräumen will, aber keinen passenden Platz dafür findet, erst einmal hineinwirft? Das klingt irgendwie therapeutisch. Ohne zu wissen, ob Markus sich meiner Einlassung überhaupt anschließen würde, frage ich Euch: Seid Ihr alle unsere Therapeuten?
Eins ist, glaube ich, sicher: Solange ich mich hier noch wundere, bin ich noch einer von Euch. Oder anders gesagt: Wenn das Blog einst schweigt, bin ich auf der anderen Seite.