81:61 – das ist Deutschland vs. Kenia bei der Lebenserwartung in Jahren. Statistisch gesehen sterben die Leute hier, wenn wir gerade anfangen, von der Pensionierung zu halluzinieren. Leider ist diese Statistik sehr wahr. Unsere Haushaltshilfe verlor ihren 40-jährigen Bruder an eine Erkältung. Eine Sozialarbeiterin, die mit unserer Adoption zu tun hatte, überstand vor ein paar Wochen mit Ende 30 einen Kaiserschnitt nicht. Unser Gärtner Leonard trug neulich seinen 45-jährigen Bruder zu Grabe. Und nun ist er mit Anfang 40 selbst gestorben.
Leonard hatte bei uns fünf Jahre lang gearbeitet. Seine große Stärke waren gar nicht so sehr unsere Büsche und Blumen, denen er beim Zurückschneiden immer einen eher militärischen Bürstenstil verpasste. Richtig gut war er im Kampf gegen den Alltag. Regnete es durchs Dach, brauchten wir einen Zaun am See, wollten wir die kleine B. mit einem Sandkasten erfreuen, nagten die Termiten allzu hungrig an den Stützen des Terrassendachs oder war der Abfluss mal verstopft, Leonard wusste immer Rat. Entweder er legte selbst Hand an, oder kannte jemanden, der es konnte.
Mittwoch vergangener Woche hatte mich morgens eine Nachbarin angerufen. Ob ich das von Leonard schon gehört hätte? Von einem Auto sei er gestern angefahren worden und gestorben. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, außer so etwas wie „WAS?“, dann „das kann doch wohl nicht wahr sein“ und schließlich „so eine verdammte Sch…“. Dann legte ich auf, ging ich hinaus und fragte unseren Wächter Collins. Er wusste es schon. Eine Cousine von Leonard, die neben ihm wohnt, hatte abends laut geschrien und geweint.
Es war kurz nach 8 Uhr morgens, Zeit die kleine B. in den Kindergarten zu bringen. Leonard fing seinen Dienst normalerweise jetzt an. Bevor wir abfuhren, wusch er das Auto und trug dabei um diese kalte Jahreszeit seine rote „FC Liverpool“-Wollmütze. Das Auto war trocken, der Eimer leer, die Mütze hing am Haken, Leonard war nicht da. Ich wollte es einfach nicht glauben. Vielleicht war das Unfallopfer ja gar nicht Leonard, sagte ich hoffnungsvoll. Vielleicht kommt er heute einfach nur zu spät. Collins wiegte den Kopf und verzog stumm sein Gesicht.
Als ich vom Kindergarten zurückkam, stand Leonards Bruder auf dem Hof. Er erzählte, wie Leonard morgens seine Kinder in die Schule gebracht hatte und dann an der Straße entlang zur Bushaltestelle gegangen war. Wie ein Auto auf der anderen Seite der Straße viel zu schnell fuhr, beim Bremsen außer Kontrolle geriet, quer über die Straße rutschte, Leonard von hinten traf, erst meterweit wegschleuderte und dann überrollte. Erst lag er eine Weile im Straßengraben. Dann transportierte ihn der Bruder des Unglücksfahrers zur nächsten Ambulanz. Später wurde er von einem Krankenwagen ins große Kenyatta-Krankenhaus in Nairobi gebracht. Nach einem Blick aufs Röntgenbild von Leonards Kopf winkte der Arzt nur ab. Abends war er tot.
Ich sagte, das täte mir alles sehr leid. Mir auch, sagte der Bruder, und fügte schnell hinzu, sie bräuchten nun Hilfe, zunächst einmal bei der Beerdigung, dann bei den Krankenhauskosten und schließlich überhaupt. Etwa jetzt endete meine Trauer für einen Moment und das vernebelte Denken klarte auf. „Kenianer werden seltsam, wenn es um Geld geht“, hatte einmal ein kenianischer Freund selbstkritisch bemerkt. Tatsächlich fragte ich mich in diesem Moment: Ist das überhaupt der Bruder? Und wenn ja, würde er, wenn ich ihm Geld gäbe, dieses an die weitaus härter betroffene Frau und Kinder weiterreichen?
Natürlich würden wir der Familie helfen. Denn sicherlich hatte Leonard, der freiberufliche Gärtner und Mann für alle Fälle, keine Rentenversicherung. Auch keine Lebensversicherung. Und keine Unfallversicherung. Wie sich später herausstellen sollte, hatte er auch keine Krankenversicherung, obwohl ich ihm dafür extra monatlich Geld gegeben hatte. Ich vereinbarte mit Leonards Bruder, dass wir uns melden würden. Als er weg war, nahm Collins mich zur Seite und sagte, es sei sehr wichtig, dass ich meine Hilfe nur mit Leonards Frau direkt besprechen würde. Sobald die Verwandten sähen, dass da Geld fließe, sei sie in Gefahr, alles wieder zu verlieren.
Spätnachmittags lief ich mit der kleinen B. und Collins durch den Garten. Wir öffneten die Türe im Zaun zum See, den Leonard gebaut hatte, damit die kleine B. nicht hineinfiele, setzten uns auf den Steg, den er mehrfach repariert hatte, und warfen Steine ins Wasser. Wir streichelten die Katze, die auf den warmen Steinen der kleinen Terrasse lag, die Leonard an einem besonders sonnigen Ort in unserem Garten angelegt hatte. Wir umrundeten den Gemüsegarten, in dem der Spinat, die Kürbisse, die Karotten und die Auberginen wuchsen, die Leonard angepflanzt hatte. Egal wohin wir auf unserem Grundstück gingen, Leonard hatte hier gebaut, repariert, gepflanzt und gestrichen. Es war wie ein Museumsbesuch, nur viel trauriger.
Abends, nachdem die kleine B. ins Bett gegangen war, machte ich ein Feuer im Kamin. Wir hingen unseren Gedanken nach. Ich schaute in die Flammen und sagte: „Das Feuerholz hat übrigens Leonard letzte Woche für uns gehackt.“
Fortsetzung folgt.