Nomaden sind Menschen, “die aus kulturellen, ökonomischen oder weltanschaulichen Gründen eine nicht sesshafte Lebensweise führen”, sagt Wikipedia. Üblicherweise sind damit zum Beispiel somalische Rinderhirten gemeint. Bekannt sind aber auch Miet- und Jobnomaden, die auf ihre Art nach dem metaphorischen saftigen Gras suchen. Nun möchte ich eine neue Unterart hinzufügen, die ich Samstag letzte Woche entdeckt habe: den Elektronomaden.
Das Gegenteil des Nomaden ist der Sesshafte. Ein wirklich schönes Wort, finde ich, denn es klingt nach Menschen, die so lange auf einer Stelle sitzenbleiben, bis sie dort festkleben. Nirgends passt diese Bild besser als im Flugzeug, wo das Sitzen, von gelegentlichen Ausflügen zur Bordtoilette unterbrochen, Dauerzustand ist und ich mich manchmal frage, wann Sitz und Hintern eine organische Verbindung eingehen werden.
Bin ich als Reisender auch schon Nomade? Fliege ich aus kulturellen, weltanschaulichen oder ökonomischen Gründen von Kenia nach Deutschland? Ich bin auf dem Weg zu einem Familienfest, das könnte als kulturell durchgehen. Auch will ich mal wieder Heimatluft schnuppern. Ist das nun weltanschaulich? Heimat ist ja durchaus ein Konzept, das mal ausführlich vom philosophischen Quartett hätte diskutiert werden können. Aber das gibt ja nicht mehr.
Als Reisender in einem Flugzeug existiere ich ohnehin in einer seltsamen Paradoxie. Während ich wie angeklebt stundenlang dahocke und die Rücklehne eines Mitreisenden anstarre, befinde ich mich in gefühlter Bewegungslosigkeit. In Wirklichkeit rase ich jedoch in 12 Kilometern Höhe mit 950 Stundenkilometern von A nach B. Ich bin ein gefühlt sesshafter und tatsächlich düsenangetriebener Interkontinental-Nomade.
In Quatar für einen Zwischenstop gelandet, ändert sich das. Aus den Sitzenden werden Getriebene, also eher die Herde des Nomaden, als die Nomaden selbst. Aus dem Flugzeug scheucht man uns in Busse, aus den Bussen in die große Ankunftshalle. Dort rennen wir wie Schafe diesen seltsamen Slalom, entlang des künstlich zur Schlange geformten Weges in Richtung Sicherheits-Check.
Danach will der Elektronomade seinen Laptop aufklappen, den Ipad anwischen, das Smartphone starten und stellt fest, dass die Batterie, die große Spielverderberin unserer Zeit, nicht mehr will. Eine Steckdose muss her. In dem Moment, in dem ich selbst mit der Suche beginne, stelle ich fest, dass ich nicht alleine bin. Menschen, die ihre Netzteile wie Wünschelruten in der Hand führen, wandern umher, von einer Steckdose zur anderen.
Ich folge ihnen. Hoffnungsvoll setze ich mich neben einem jungen Mann auf den Boden, dessen Ipad eingestöpselt ist. Packe umständlich Laptop, Netzteil und Adapter aus. Ein paar vollverschleierte Frauen kommen ebenfalls zur vermeintlichen Elektro-Oase und lassen sich nieder. Ein echtes Sit-in. Ich stöpsle ein, aber nichts passiert. Eine der Frauen fragt mich, ob es klappt. Ich verneine. Ich frage den jungen Mann, dessen Netzteil eingesteckt ist. Nein, bei ihm ginge es auch nicht, er hätte es bloß nicht wieder ausgesteckt.
Blödmann! Packe alles wieder zusammen und mache mich wieder auf die Suche. Probiere mehrere andere Steckdosen, aber Fehlanzeige. Ganz auf der anderen Seite der Halle sitzen Menschen wie angeleint. Die Steckdosen dort scheinen zu funktionieren. Ein Herr im Businessanzug, der vermutlich gestern noch seine Kinder ermahnt hat, bei Tisch aufrecht zu sitzen, lümmelt auf dem Boden herum. Sein Laptop strahlt bei voller Bildschirmhelligkeit, als wollte er sagen: Ich habe Energie im Überfluss.
Neidisch wandere ich weiter, auf und ab, immer an der Wand mit Steckdosen entlang. Nach 20 Minuten steht jemand auf, stöpselt aus und geht. Endlich Strom. Gierig saugt mein Laptop. Eine Gruppe junger Leute legen sich mir zu Füßen um die Steckdose herum. Alle machen irgendetwas mit ihren Smartphones. Dann wird mein Flug aufgerufen. Ich stehe auf. Die jungen Leute sind begeistert, danken mir und stöpseln ein. Schön, wenn sich Leute freuen, dass ich gehe.
Ich stelle mich am Gate an, aber nichts passiert. Nach zehn Minuten kommt ein Angestellter der Fluglinie vorbei und meint, es dauere noch, wir sollten uns wieder setzen. Da bricht es aus mir heraus, und ich schnauze den Mann an: „Wissen Sie, eben hatte ich noch einen spitzenmäßigen Sitzplatz mit Steckdose.“ Verständlicherweise schaut er mich völlig verständnislos an. Wir Elektronomaden sind eben Avantgarde, und die hat zu ihrer Zeit ja auch niemand verstanden.