Lieber Markus,
ich glaube, ich sagte es bereits, aber was die abendliche Unterhaltung anbetrifft, ist hier in Accra im Gegensatz zu Moskau wenig geboten. Da dachte ich, wenn’s sonst nichts Besseres zu tun gibt, na, dann lern’ ich halt Französisch. Gesagt, getan. Die Frage ist jetzt nur: Wird mich später irgendjemand verstehen können?
Der Unterricht hier folgt der neumodischen Konversationsmethode. Das heißt: Langweilige Grammatik oder Nerv tötende unregelmäßige Verben pauken ist so gut wie passé. Lieber Alltagskultur tanken, als sich mit Nebensächlichkeiten wie Vokabeln aufhalten. So kann man beim Besuch in Frankreich gleich ein Hotelzimmer reservieren, den Fahrplan lesen oder im Restaurant auf Augenhöhe mit dem Kellner parlieren.
Sieben Ghanaer und ich radebrechen also vor uns hin, und der Lehrer aus dem französischsprachigen Nachbarland Togo lächelt froh dazu. Letztens nahmen wir die Jahreszeiten durch. In Frankreich gibt es davon vier, in Deutschland fünf, jedenfalls zwischen Köln und Konstanz. In Ghana sind es dagegen höchstens zwei: Eine heiße und eine sehr warme, und keine von beiden erinnert auch nur entfernt an Frühling, Herbst oder Winter.
Aus dem Winterurlaub in Deutschland zurückgekehrt, habe ich in den vergangenen Wochen gerne immer wieder erzählt, dass es dort so kalt ist, dass man Daunenjacke, Mütze, Schal und Handschuhe tragen muss, um nicht zu frieren. Damit erweckte ich aber zunächst nur mäßiges Interesse bei meinen ghanaischen Kommilitonen.
Warum das so war, wurde mir – wieder einmal – klar, als ich am vergangenen Sonntag bei kräftiger Bewölkung und knapp unter 30 Grad im Schatten eines der alten europäischen Küstenforts besuchte. Oben auf den Zinnen von Fort Usher in Accra-Jamestown genoss ich die kräftige Brise vom Meer her, während der ghanaische Touristenführer heftig fröstelte und wegen Zähneklapperns seinen Vortrag unterbrechen musste.
Wenn ich hier also möglichst eindrücklich vom Winter erzählen will, muss ich der Phantasie meiner Zuhörer wohl ein bisschen mehr bieten. Deshalb ziehe ich früher oder später mein As aus dem Ärmel und verkünde, dass sie einfach mal ihre Hand ins Kühlfach ihres Kühlschranks stecken sollen. Dann würden sie schon merken, wie kalt es in Deutschland ist, und manchmal noch viel kälter.
Der togoische Französischlehrer sollte uns also laut Lehrplan die vier Jahreszeiten näher bringen. Nachdem er, um ganz sicher zu gehen, zuvor noch sein Skript konsultiert hatte, schrieb er gewissenhaft an die Tafel: 21. Dezember bis 21. März, 21. März bis 21. Juni und so weiter. Soweit prima. Nur waren die dazugehörigen Jahreszeiten alle falsch. Der Sommer begann im Dezember, der Winter im Juni, der Herbst im März und der Frühling im September.
Ich kann zwar (noch) kein Französisch, aber wenigstens ein bisschen europäische Kultur. Schon öfter habe ich mich deshalb durch Besserwisserei bei unserem Lehrer unbeliebt gemacht. Einmal stand die kontinentale Küche auf dem Lehrplan, ich sagte ja: Konversationsmethode. Im Verlauf der Stunde musste ich dann darauf bestehen, dass ein Kartoffel-Gratin keine Suppe ist, Mousse au Chocolat schlicht Schokoladenschaum, wie seltsam es auch scheinen mag, und zu Spaghetti Bolognese selten Spargel gehört.
Lehrerkritik kommt hierzulande nicht immer gut an. In den Schulen sollen dem Hörensagen nach noch raue Sitten herrschen, Rohrstock und so. Nachdem ich schon so oft gemeckert hatte, schwieg ich bei der Sache mit den Jahreszeiten. Nicht wegen des Rohrstocks, unserer Lehrer hat keinen, soweit ich sehen kann, aber ich wollte einfach nicht immer der Miesmacher sein.
Nun gräme ich mich. Bin ich ein Duckmäuser, der schon beim kleinsten Widerstand den Kopf einzieht? Lieber mehr Harmonie, dafür weniger Demokratie? Früher hieß es: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Ich habe mich nicht gewehrt und habe versagt. Sollte Dir also irgendwann in Deinem Leben an einem krachend kalten Wintertag ein Ghanaer begegnen, der diesen herrlichen Sommertag lobt, dann weißt Du jetzt, wo Du den Schuldigen zu suchen hast.
Viele Grüße aus Accra
Michael