Nairobi gilt als gefährlich. Bewaffnete stehlen Autos, zwingen die Insassen dazu, ihr Konto per Kreditkarte am nächsten Automaten zu leeren oder machen Hausbesuche mit üblen Folgen. Das führt zu einer gewissen Paranoia unter den Einwohnern. Zäune, Wächter, Hunde, Alarmanlagen, Gitter und dicke Vorhängeschlösser sollen das Leben sicherer machen. Manchmal ein bisschen zu sicher.
Wohn- und Schlaftrakt unseres Hauses werden von einer Zwischentür aus starkem Holz getrennt, die nicht nur ein Schloss hat, sondern mehrere Riegel, die links und rechts ins Mauerwerk geschoben werden. Weil das offenbar nicht reicht, haben die Vormieter noch ein Stahlgitter eingebaut, das von der Schlafzimmerseite her mit einem Vorhängeschloss gesichert wird.
Vor ein paar Tagen musste ich das Haus früh verlassen und war deshalb natürlich spät dran. In verschlafener Hektik öffnete ich Holztür und Stahlgitter und rannte zum Auto. Dort angekommen, stellte ich fest, dass ich den Schlüssel für das Vorhängeschloss in die Hosentasche gesteckt, und nicht, wie sonst, im Schloss selbst zurückgelassen hatte.
Ich war, wie gesagt, in Eile. Der Schlüssel gehörte nicht in meine Hosentasche, ein Problem, das ich sofort lösen wollte. Ich legte ihn ins Handschuhfach. Logisch, wohin sonst? Dann brauste ich los und vergaß die ganze Sache. Am späten Nachmittag kehrte ich zurück, las, kochte, schaute fernsehen, vertrödelte den Abend, wurde müde, schlurfte Richtung Schlafzimmer, schloss das Gitter und schnappte das Vorhängeschloss ein.
Manche Geräusche haben eine elektrisierende Wirkung. Telefonklingeln in der Oper, der Wecker am Morgen, oder das Knarren einer Tür mitten in der Nacht. Das alles ist aber nichts im Vergleich zu dem Weckruf, den mir das Geräusch des einschnappenden Vorhängeschlosses verabreichte. Etwa so: Müde, sehr müde, schnapp, wach, sehr wach, HELLWACH!
Da ist das Schloss, aber kein Schlüssel! Wo ist der Schlüssel? Auf dem Boden? Nein. Am Haken an der Wand? Auch nicht. In der Hosentasche? Dreimal nein. Dann wusste ich es wieder: Der Schlüssel ist im Handschuhfach.
Oooh, shit.
Das Stahlgitter versperrte den einzigen Ausgang. Ich war eingeschlossen. In meinem eigenen goldenen Käfig. Das Haus, ich muss es noch einmal erwähnen, ist vollständig vergittert. Jedes Fenster ist einfach oder sogar doppelt mit festvermauerten Stahlstangen versehen.
Nur eines nicht: Am kleinen Badezimmerfenster sind die beiden Gitter aufklappbar, eine Art Notausgang, wahrscheinlich für den Fall eines Brandes. Die Schlüssel zu den Klappgittern, so erinnerte ich mich, hingen an einem Nagel im Kleiderschrank. Ich trabte hin und betastete sie glücklich. Dann betrachtete ich das Badezimmerfenster. Dann meinen Körperumfang. Dann wieder das Badezimmerfenster. Das konnte lustig werden.
Ich holte einen Stuhl, stellte mich darauf und begann die kleinen Scheiben des Fensters herauszuziehen. Keine Ahnung, woher diese Klappfenster mit ihren waagerecht angebrachten, lamellenartigen Scheiben kommen. Vielleicht sind sie ein koloniales Erbe, denn in Ghana gab es sie auch. Sie haben den Vorteil, nicht dicht zu sein und immer eine leichte Brise durchzulassen. Außerdem haben sie den Nachteil, nicht dicht zu sein und immer eine leichte Brise durchzulassen.
Offenbar hatte seit der Kolonialzeit niemand versucht, diese Scheiben aus ihren Fassungen herauszuziehen. Ich zerrte mit aller Kraft und verbog dabei die metallenen Führungsschienen. Es knirschte schmerzhaft laut. Ein toter Gecko stürzte auf mich nieder, der wohl irgendwann im Klappfenster steckengeblieben und verendet war. Bald hielt ich schnaufend das erste Fenster in Händen. Da waren’s nur noch drei.
Auch die waren irgendwann geschafft. Nun musste ich nur noch hindurch. Glücklicherweise schaue ich hin und wieder aufmerksam im Fernsehen Kunstturnen an. Mit dieser gymnastischen Grundausbildung ist es eigentlich gar nicht schwierig, sich durch ein Fenster zu quetschen, das nur wenig breiter ist, als man selbst, und sich mindestens zwei Meter über dem Boden befindet.
Zu passender Musik, zum Beispiel einem Wiener Walzer, der meine graziösen Bewegungen melodiös untermalt, könnte man aus dieser Kür glatt ein Experimentalvideo machen. Der tote Gecko, das nasse Handtuch, das mir beim Klettern übers Gesicht hing, und der weiße Stuhl, auf dem ich balancierte, würden es mit ihrer Symbolkraft sofort fürs „Kleine Fernsehspiel“ qualifizieren.
Draußen begrüßten mich Sturm und Regen. Ich erwähne das nicht, weil dramatische Situationen dieses Klischee erfordern. Es war wirklich so. Von draußen zu sprechen, war in diesem Moment allerdings etwas optimistisch. Ein Bein hing noch drin, das andere schon draußen im nassen Efeu, eine Hand suchte Halt am hin- und her schwingenden Klappgitter, die andere an der Handtuchstange im Badezimmer.
Der Fuß des draußen hängenden Beins verlor einen Hausschuh. Ich sah, wie er sich zu den gedachten Walzer-Klängen drehte und im Dunkel verschwand. Wie E. sich nun freuen würde, dachte ich. Sie hasste diese Schuhe. Unförmig und billig sähen sie aus, wie Adiletten, hatte sie einmal angemerkt. Ich hatte entgegnet, ich könne doch auch nichts für die kenianische Hausschuhmode. Immerhin unterstützte ich damit die kenianische Schuhwirtschaft, hatte ich weiter argumentiert und hinzugefügt, Adiletten seien mittlerweile Kult und sähen außerdem ganz anders aus. Auch stünde das Wort “Safari” auf dem Schuh. Es hatte alles nichts genutzt. Dann lieber barfuß, hatte sie gesagt.
Apropos barfuß. Der Schuh war unter dem Gebüsch im Matsch verschwunden. Ich folgte im nur mäßig kontrollierten Fall und erreichte so den Garten. Auf einem Hausschuh und einem Socken humpelte ich durch Pfützen ums Haus zum Auto. Der Wächter in seinem Häuschen gleich daneben tat, was alle guten Wächter tun und schlief fest. Prima. Man konnte hier also mit festen Hieben vier Glasscheiben entfernen, zwei Gitter quietschend öffnen, prasselnd durchs Gestrüpp stürzen, ums Haus humpeln, dabei laut fluchen, und keiner merkte was.
Der Rest ist schnell erzählt. Mit dem Schlüssel in der Tasche zurück durch Garten, Gestrüpp und Fenster, dann das Schloss geöffnet und heiße Schwüre ausgestoßen, nie, nie wieder so doof zu sein. Die Alternative zu all dem wäre gewesen, auf den nächsten Morgen zu warten, den Tagwächter durchs Klofenster um Hilfe zu rufen und ihm den Autoschlüssel zuzustecken. Aber, mal ehrlich, wo wäre da der Spaß geblieben?