Rabauken, Trompeten, und dann war da noch etwas

Dass Eltern mit ihren Kindern gerne kunstsinnige und unterhaltsame Veranstaltungen aufsuchen, ist von vielerlei Motivationen getrieben. Erstens fürchten sie die Langeweile (natürlich nicht ihre eigene, die dank Nachwuchs ohnehin nicht existiert). Zweitens hoffen sie immer das Beste und vor allem, dass ihre Kinder nicht zu smartphone-süchtigen iZombies heranfaulen, die Sonne und Luft nur noch aus der „Bibi-und-Tina“-App kennen. Drittens bieten besonders klassische Live-Konzerte immer die Chance auf ein schönes, gemeinsames Erlebnis in entspannter Atmosphäre.

Vermutlich deshalb ist die Frankfurter Kinderkonzertreihe „Rabauken und Trompeten“ seit Jahren rasend beliebt und immer sofort ausverkauft. Nur dem Einsatz meiner Freundin K. haben wir es zu verdanken, dass wir dieses Jahr dabei sein durften. Gleich morgens, am ersten Tag des Kartenvorverkaufs im Oktober 2018, hatte sie sich in eine telefonische Warteschleife gestürzt und nach 45 Minuten die letzten Karten bekommen. So beliebt sind diese Konzerte.

Vergangenen Sonntag war es endlich soweit. Ich war wieder einmal diensthabende First Lady. Mama war malade und konnte nicht mit, so ging das überzählige Ticket an eine spontan rekrutierte Freundin von Bb. „Wir gehen in die Alte Opa“, sangen beide während der Fahrt und kasperten sich vom Parkplatz im Westend über den wasserlosen Brunnen auf dem Opernplatz bis ins Albert Mangelsdorff Foyer.

Dort betrat ein männliches Streicherquartett nebst weiblicher Moderatorin die Bühne, und als es still geworden war, bat die Künstlerin darum, doch bitte auf das Filmen und Fotografieren zu verzichten. Der Saal war voll besetzt. Vorne hockten 100 Kinder auf dem Boden. Hinten saßen ebenso viele Mamas und Papas auf Stühlen und hielten sich an das freundliche Gebot.

Nur einer nicht. Der Mann direkt neben mir.

Wir saßen in der letzten Reihe, und obwohl es mich auch störte, dass er unbedingt filmen musste, ließ es ich gut sein. Wer wollte sich denn schon wieder aufregen. Sieben Sitze weiter rechts und eine Reihe nach vorne war ein Vater nicht so genügsam. Nach einer Weile drehte er sich um, und sagte, das möge doch bitte aufhören: Er wolle nicht, dass sein Kind gefilmt werde.

Guter Punkt, dachte ich, da auch ich nicht wollte, dass Bb und ihre Freundin in irgendeinem Facebook-Kanal auftauchen würden. Leider sah der Typ neben mir das ganz anders. Erst muckte er und begehrte auf, dann brüllte er: „Alle sind nur von hinten zu sehen – asoziales Arschloch.“

So.

Jetzt wollen wir mal zusammenfassen und nachrechnen:

Wir haben einen bezaubernd schönen Frühlingstag.

+ Alte Oper in Frankfurt.

+ 100 frohe Kinder zwischen 3 und 6 Jahren.

+ Noch einmal so viele Mütter und Väter.

+ Phantastisches Streicherquartett und heitere Moderatorin.

+ Schöne Musik aus mehreren Jahrhunderten.

+ Harmlose Singspiele zum Mitmachen für alle.

+ Hinweis am Anfang, bitte aufs Filmen zu verzichten.

+ Sachliche Bitte zwischendrin, mit dem Filmen aufzuhören.
_________________________________________________________________

= Asoziales Arschloch

???

In welchem Universum führen solche Voraussetzungen zu diesem Ergebnis?

Welche unterkomplexe Gefühlsmathematik bringt einen erwachsenen Mann dazu, während eines Konzerts in einer hundertprozentig friedlichen und gut gelaunten Wohlstandsumgebung vor 200 Personen so auf eine kleine und absolut berechtigte Kritik zu reagieren?

Ich habe keine Ahnung.

Muss man sich angesichts solcher sozialer Geisterfahrer noch über den Zustand der Welt wundern?

Vermutlich nicht.

Mein erster Impuls war, ihn an der Nase aus dem Saal zu schleifen. Aber dann wäre die Veranstaltung erst recht geplatzt. Deshalb habe ich mich darauf beschränkt, tief durchzuatmen, etwa 297 Mal, give or take, und versucht, den Rest des Konzertes zu genießen.

Echt heldenhaft, ich weiß. Bin halt doch nur ein Schreiberling.

Am Ende blieb alles ruhig. Er filmte auch nicht mehr. Die Kinder hatten ihren Spaß. Und das war ja schließlich die Hauptsache.

Das Rätsel der verschwundenen Babysitter

Mr Sherlock Holmes
221B Baker Street
London

Verehrter Mr Holmes,

durch die Berichte Ihres Freundes und Kollegen Dr. Watson ist Ihr Verlangen nach intellektuellen Herausforderungen allgemein bekannt. Bisher war ich nur ein still genießender Konsument Ihrer Fälle, bot doch mein Leben keinerlei erwähnenswerte Mysterien. Nun aber hat sich innerhalb kürzester Zeit eine Reihe seltsamer Vorfälle zugetragen, die ich Ihnen gerne schildern möchte und hoffe dabei auf Ihr Interesse und ihre Hilfe bei der Lösung des Rätsels.

Was mir seit einigen Tagen keine Ruhe mehr lässt, begann mit einem der größten verbliebenen Abenteuer der Menschheit: der Suche nach einem Babysitter. Selbst bekanntlich kinderlos, wird es Sie gewiss überraschen, dass diese banal klingende Aufgabe den modernen Menschen vor eine geradezu existenzielle Herausforderung stellt.

Wir, das heißt meine Frau und ich, wünschten uns nicht mehr, aber gewiss auch nicht weniger, als eine vertrauenswürdige, freundliche Person, die sich an ein paar Nachmittagen in der Woche um unsere Tochter kümmern sollte. Ich hatte mit einigen wenigen Telefonaten im Bekanntenkreis gerechnet, gefolgt von den Bewerbungen enkelerfahrener Erziehungsveteranen oder wenigstens snapchattender Teenies. Als jedoch bald alle Freunde vergeblich befragt und alle gut gemeinten Empfehlungen sich in Nichts aufgelöst hatten, griff ich in meiner Not zur guten alten Kleinanzeige, derer auch Sie, Mr Holmes, sich einst gerne bedient haben.

Anders als zur Zeit Ihrer Erschaffung, wenn ich so sagen darf, werden Anzeigen heute online aufgegeben, ebendort auch gelesen und beantwortet. Dies ist ein Umstand, der mir im Zusammenhang mit meinem Fall erwähnenswert erscheint. Die Konversationen, die sich mithilfe dieser „Online“-Medien entspinnen, folgen – Sie werden es gleich sehen – ganz eigenen Regeln, die wenig mit jener gepflegten Kommunikation zu tun hat, derer Sie sich zu Ihrer Zeit befleißigten.

Ich annoncierte also unseren Wunsch, baldmöglichst Unterstützung bei der Betreuung unserer Tochter zu erhalten und wartete gespannt. Bald erreichten mich Antworten auf meine Anzeige, und die schiere Zahl bestärkten mich in der Überzeugung, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Was jedoch so vielversprechend begann, war, wie Sie gleich bemerken werden, nichts mehr als ein trügerisches Strohfeuer. Denn Inhalt und Stil der Nachrichten, die ich erhielt, verwandelten meinen frisch gewonnen Mut schnell wieder in dumpfe Hoffnungslosigkeit.

Was, Mr Holmes, sollte ich von jener Person halten, die sich mit den dürren Worten „Ich hätte Lust, LG“ bei mir bewarb, wobei, wenn Sie mir die kurze Erläuterung gestatten, die beiden Großbuchstaben am Ende nicht etwa für einen koreanischen Elektronikkonzern stehen, sondern für “Liebe Grüße”? Es schien sich um eine Person zu handeln, die selbst bei der Anbahnung einer Arbeitsbeziehung, die auf tiefstem Vertrauen gegründet sein sollte, nicht Willens oder in der Lage war, sich mit einigen Worten vorzustellen, einen Namen zu nennen oder wenigstens einen Gruß zu formulieren, der aus ganzen Silben bestand? Nicht einmal eine aus Hartplastik modellierte Zimmerpflanze würde ich in solcher Hände Obhut geben, geschweige denn mein Kind!

Es war aber nicht die nachlässige Ausdrucksweise, die mich dazu bewog, mich heute an Sie zu wenden, Mr Holmes, sondern das wiederholt abrupte Ende meiner Unterhaltungen mit einigen der Bewerberinnen. Mehrere hattten zunächst nachdrücklich ihr Interesse bekundet und waren dann – plötzlich und für immer – verstummt, ohne dass ich einen Grund dafür hätte erkennen können. Damit Sie sich selbst ein Bild machen können, möchte ich Ihnen eine kurze Mail-Konversation ungekürzt als Basis für Ihre Nachforschungen zur Verfügung stellen. Sie hat sich – bei meiner Ehre! – Wort für Wort so zugetragen.

Die Babysitterin, 19.02 Uhr
Einen wunderschönen guten Abend,
ist die Betreuung denn schon vergeben oder suchen Sie noch jemanden?
Liebe Grüsse XX

Ich, 20.10 Uhr
Einen wunderschönen Abend zurück, Frau XX,
nein, die Betreuung ist noch zu haben. An welchen Tagen könnten Sie
denn? Wohnen Sie in Kronberg oder in der Nähe?
Viele Grüße
Michael Hasenpusch

Die Babysitterin, 20.17 Uhr
Wir wohnen in Oberursel, ich bin selbst Mami (…). Ich bin zeitlich relativ flexibel, da ich meinen Mann und die Oma an meiner Seite habe:)
Für mich wäre nur wichtig, wie viele Tage es in der Woche wären, da in der Anzeige steht, dass es auch gerne mehr wären.
LG

Ich, 20:19 Uhr
Zunächst einmal wären zwei Tage wichtig, da wir, meine Frau und ich, an
zwei Nachmittagen das bisher auch selbst übernommen haben und den
Freitag schon eine Freundin übernimmt. Am besten wäre es für uns,
jemanden für Montag und Mittwoch zu engagieren. Wie siehst es da bei
Ihnen aus?

Die Babysitterin, 20.22 Uhr
Das würde passen, wie wäre denn die Bezahlung, da mein Sohn unbedingt auf etwas einspart, daher muss Mama noch mehr arbeiten:)

Ich, 20.24 Uhr
Lassen Sie uns das am besten am Telefon besprechen. Könnten wir morgen
telefonieren? Wann würde es Ihnen passen?

Die Babysitterin, 20.25 Uhr
Ich bin auch jetzt erreichbar, wenn es ihnen passt.

Ich, 20.26 Uhr:
Warum nicht, schicken Sie mir Ihre Nummer, dann rufe ich an…

Ich wartete.

Wartete noch etwas länger

Der Äther blieb stumm.

Am folgenden Tag schrieb ich ihr noch einmal.

Hallo Frau XX,
haben Sie noch Interesse? Dann würde ich gerne telefonieren, bräuchte allerdings Ihre Nummer. Alternativ können Sie mich natürlich auch anrufen: 0XX-XXXXXXX.
Viele Grüße
Michael Hasenpusch

Doch Frau XX meldete sich jedoch nicht mehr.

Nun frage ich Sie, Mr Holmes, was kann in den wenigen Minuten einer bis dahin recht solide klingenden Konversation geschehen, das eine Bewerberin auf gar nicht mal schlecht bezahlte Stelle unvermittelt verstummen lässt? So sehr ich meine Gedanken auch drehe und wende, es will mir kein plausibler Grund dafür einfallen.

Daher kann ich nicht anders, als Ihrem unsterblichen Aphorismus zu folgen – „When you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth” – und anzunehmen, dass der Grund für das Verstummen dieser und anderer Aspirantinnen auf die Babysitterstelle nur in deren – selbstverständlich unfreiwilligen – Verschwinden liegen kann.

Was geschieht mit diesen Menschen? Wohin verschwinden sie? Und wem nützt denn das? Nun, Mr Holmes, am Ende meines Briefes, komme ich zu meinem ungeheurlichen Verdacht, den Sie sicherlich schon längst erwogen haben: Steckt hinter den feigen Taten möglicherweise Ihr Erzfeind, dessen Namen ich kaum auszusprechen wagen, der infame Professor Moriarty? Führt jener, den Sie den Napoleon des Verbrechens nannten, vielleicht einen solch promisken Lebensstil, dass er für seine vielköpfige, illegitime Nachkommenschaft ganzer Heerscharen von Babysittern bedarf und sie zu diesem Behufe entführt?

Fragen über Fragen, Mr Holmes, und ein Verdacht, der, wie ich hoffe, Ihr Interesse geweckt hat. Babysitter sind so dringend benötigt wie rar gesät. Deshalb schließe ich meinen Brief mit einem dringenden, ja, verzweifelten Appell: Legen Sie die Geige nieder, die Spritze zurück in die Schublade Ihres Schreibtisches. Helfen Sie mir und allen Eltern, die sich in einer ähnlichen Situation befinden! Nicht nur sie, nein, auch die Kinder werden es Ihnen danken.

In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich herzlichst

Ihr

Michael Hasenpusch

Heute vor einem Jahr (mehr oder weniger)

Vorhin bin ich in eine Radarfalle in einer der vielen 30er-Zonen meiner kleinen hessischen Heimatstadt getappt. Kaum war die Wärme des roten Blitzes an meiner rechten Backe abgeklungen, erinnerte ich mich mit einem Anflug Nostalgie an eine ähnliche Situation in Kenia. Deshalb veröffentliche ich hier ein dem Anlass sehr angemessenes Memorabile, meinen Original-Strafbescheid für zu schnelles Fahren, ausgestellt vom Milimani Verkehrsgericht in Nairobi.

Ich glaube, ich habe das an anderer Stelle schon erzählt, aber nochmal: Ein solches Verbrechen zu begehen, hatte in Kenia ganz andere Konsequenzen als hierzulande. Von der Polizei gestoppt, erhielt ich dort zunächst die Möglichkeit, die Sache sofort und unbürokratisch durch Zahlung einer gewissen Summe in die private Hosentasche des Beamten aus der Welt zu schaffen.

Eigentlich sehr praktisch. Leider lebte ich in Kenia als eine Art wandelnde Antikorruptionszone. Rein aus Trotz bestach ich nichts und niemanden und machte mein Leben dadurch sehr kompliziert. Auch in diesem Fall blieb ich standhaft. Zum Dank wurde ich aufgefordert, vor Gericht zu erscheinen. So verbrachte ich zwei Tage meines Lebens zunächst im Auto im Stau auf dem Weg zum und vom Gericht und natürlich auch im Verhandlungssaal.

Dort saß ich mit etwa 100 anderen Delinquenten und erwarb durch bloße und wiederholte Ausübung von Geduld den schwarzen Gürtel im Warten. Als ich nach Stunden endlich aufgerufen wurde, dauerte es von der Anklageerhebung bis zum Urteil nur etwa fünfzehn Sekunden. Ich gestand sofort und uneingeschränkt, trabte zu einem Kassentisch, zahlte umgerechnet 50 Euro Strafe und durfte endlich nachhause gehen.

Hier ist es einfacher. Es blitzte, ich fuhr weiter, mein Ärger verrauchte nach der nächsten Kurve. In zwei Wochen später werde ich einen Brief erhalten, mich noch einmal ärgern und bezahlen. So weit, so langweilig. Wie aufregend war dagegen doch Afrika. Das Leben, besonders in Ghana, schien wie ein konstanter Ausnahmezustand: das zermürbende Klima, der unsägliche Straßenverkehr, die ständigen Stromausfälle, das ausbleibende Wasser, die endlose Suche nach Wäscheständern, im Fieberwahn durchdrehende Wächter und Haushälterinnen am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Das Aufregendste, das mir hier in den letzten Wochen passiert ist, war mein Vermieter, der im selben Haus wohnt und mich eines Morgens fragte, ob ich Plastik in die Restmülltonne geworfen habe. Ohne meine Antwort abzuwarten – fürs Protokoll: sie lautet “nein” -, ermahnte er mich sehr sehr ernst, die gehöre da nicht hin.

In letzter Zeit werde ich öfter mal gefragt, ob mir die Rückeingewöhnung Probleme macht. Ich weiß es nicht. Aber es war etwa in diesem Moment, als ich begann Afrika zu vermissen, wenigstens ein kleines bisschen.

Strulla, strulla, strullala…

Ich bin Schwabe, und das ist auch gut so. Muss ich deshalb meinem Kind Dialekt beibringen? Muss ich nicht. Es ist einfach passiert und schien mir zunächst rätselhaft, wie eine spontane Selbstmanifestation des Schwabentums in unserem eigentlich sehr dialektfreien Haushalt.

Eines Tages kamen Bb und ich nach dem Kindergarten zuhause an. Auf dem Weg die Treppe hoch, sang sie, sehr laut, weil es da so schön hallt, ein Liedchen. Melodie und Rhythmus schienen mir tief vertraut. Nur die Erinnerung an den Text wollte sich nicht einstellen.

Es klang wie: „Schdugulmobeeberachmäkebäuredulebach.“

Während ich ihr beim Erklimmen der hohen Stufen half, blieb ich stehen und fragte: „Bitte, wie?“

Gerne wiederholte sie: „Sdugolmobibaramekkaabäuledurlehach.“

Oben angekommen sagte Bb, sie müsse jetzt auf die Toilette. Ich öffnete, geschwind lief das Kind den Gang entlang, und verschwand hinter der Klotüre. Das Geräusch des klappenden Toilettendeckels wurde von einer weiteren Liedzeile untermalt: „Strulla, strulla, strullala…“

Da klingelte es bei mir. Es war das Lied von der schwäbischen Eisenbahn. Mit einer situationsgerechten Variation des Refrains „Rulla, rulla, rullala.“ Ein „Pipi-Kaka-Witz“ analysierte ich scharf aus der Ferne und war mit der Persönlichkeitsentwicklung meines Kleinkindes hochzufrieden.

Die Frage blieb, woher kam, hier mitten in Hessen, das urschwäbische Volkslied? Die genetische Weitergabe konnte in unserem Fall ausgeschlossen werden – falls die in diesem Fall überhaupt in Frage kommen sollte. Sang ich vielleicht im Schlaf – oder unbewusst beim Staubsaugen?

Die Lösung war ganz einfach. Die Oma von Bbs bester Freundin X stammt aus meiner kleinen schwäbischen Heimatstadt. Wir hören zwar hin und wieder, dass die X jetzt doch nicht mehr die beste Freundin ist, sondern die Y, aber diese Sympathien scheinen so volatil zu sein wie der Börsenkurs eines Pennystocks.

Außerdem hinderte es die beiden Mädchen nicht, beim Kinderturnen gemeinsam aufs Klo gehen zu wollen und darauf zu bestehen, dass dies nur, und unter keinen Umständen anders, als in Begleitung des Babaa, also mir, stattzufinden habe.

Da stand ich also, in Vorraum der winzigen Turnhallentoilette, und hinter der Kabinentüre erschollen, zweistimmig vorgetragen und von den gekachelten Wänden ins nahezu Schmerzhafte multipliziert, die Worte: „Strulla, strulla, strulala…“

Alles ganz normal soweit

baby-porsche

Zu behaupten, Zebras, Giraffen und Elefanten hätten sich in unserem kenianischen Gemüsegarten Gute Nacht gesagt, wäre übertrieben. Richtig ist, dass sie uns schon bei kleineren Ausflügen ins Umland von Nairobi über den Weg liefen. War uns sonntags langweilig, fuhren wir auf einen Sprung in den örtlichen Nationalpark oder an den Lake Naivasha und stolperten verlässlich über das eine oder andere vergnügt äsende Großtier.

Bald nachdem die kleine Bb uns in unsere neue kleine hessische Heimatstadt gefolgt war, besuchten wir eines Sonntagmorgens den nahegelegenen Opel-Zoo und dachten uns nichts dabei. Erst als sie juchzend einem heranschlurfenden Elefanten Karotten durch den Elektrozaun hindurch zuwarf, ahnten wir, was wir getan hatten. Von nun an würde sie glauben, dass diese Tiere hier ebenso normal waren  wie in Kenia.

Normal ist, was nicht weiter auffällt. Warum steht ein Elefant in Hessen und frisst Bio-Karotten vom Edeka? Gehört der hier hin? Würde er auf den großen afrikanischen Ebenen auch solche Karotten finden? Für mich wichtige Fragen. Für Bb eher nicht. Ich habe den Eindruck, sie findet ein ganz handelsübliches Wollschaf viel exotischer.

In Bbs Kindergarten sind gefühlte 95 Prozent aller Kinder blond und blass. Und der Rest? Ein Mädchen mit vermutlich pakistanischen Eltern, ein Junge mit einer lateinamerikanischen Mutter und natürlich Bb selbst. Bis vor ein paar Wochen hatte ich den Eindruck, ihr war noch gar nicht aufgefallen, dass sie ein bisschen anders aussieht, als die anderen.

Seit vorgestern ist das nicht mehr so. Da lag sie gegen acht Uhr abends in ihrem Bettchen und begann kurz vor dem Einschlafen zu philosophieren. Der Martin, das ist der kleine Lateinamerikaner, und der Trevor, das ist der Sohn unserer ehemaligen Haushälterin Kenia, das seien ihre Brüder. Ich fragte, warum. Weil die Jungs und sie selbst braun seien, murmelte sie schläfrig.

War ihr das selbst aufgefallen, oder haben die anderen Kinder im Kindergarten es ausgesprochen? Ich weiß es nicht. Im Moment scheint mir ihre Erkenntnis auch wertfrei zu sein. Sie ist braun, die anderen eher käsig. Na und? Wir Eltern erklären ihr, wir seien alle aus Schokolade gemacht, die einen aus dunkler, die anderen aus heller.

In Ghana und Kenia hieß es immer, Weiße sähen alle gleich aus. Anfangs wunderte mich das. Die Leute dort hatten alle dunkle Haut, dunkelbraune bis schwarze Haare und braune Augen, während die „Weißen“ nun mal blond-, braun- oder rothaarig waren und braune, blaue oder grüne Augen hatten.

Das schien den Afrikanern gar weiter nicht aufzufallen. Um sich zu unterscheiden, achteten sie auf andere Dinge, vor allem die „complexion“, die Schattierung der Haut. Über Hautfarbe zu reden, war normal. Unser kenianischer Tagwächter Collins beschrieb im Zweifel Leute immer mit „etwas heller“ oder „sehr dunkel“. Hierzulande würde man damit gleich verdächtig machen.

Hautfarbe hin der her, viel wichtiger ist es hier doch, welches Auto ich fahre. Bb und ich gehen morgens zu Fuß zum Kindergarten, das heißt, sie rollert und ich schiebe. Andere Eltern sorgen für Luxusstau und drängeln auf der kleinen Dropoff-Zone mit großen SUVs von BMW, Mercedes, Porsche und Landrover oder auch Volkswagen Multivan. Am schönsten  ist der Auftritt der Kinder eines Nachbarn. Der schickt gelegentlich seine Kinder aus fußläufiger Entfernung im Porsche Cayenne, den – Anschnallen bitte! – die Nanny fährt.

Was machen wir bloß, wenn Bb anfängt, das für normal zu halten? Müssen wir ihr dann zum nächsten Weihnachten den Baby-Porsche schenken? Und was ist mit Weihnachten in 15 Jahren? Lieber nicht dran denken.

100 Tage Deutschland (Folge 1)

Als ich ganz harmlos und ohne jede Einbruchsabsicht an einem Schild wie diesem vorbeispazierte, nahm ich mir vor, in Zukunft öfter auf dem „Sie“ zu bestehen.
Als ich gestern ganz harmlos und ohne jede Einbruchsabsicht an einem Schild wie diesem vorbeispazierte, nahm ich mir vor in Zukunft öfter auf dem „Sie“ zu bestehen.
Quelle: Meine eigenes “Design”; der Hund ist von saycheesecake / 123RF Lizenzfreie Bilder.

 

Mitte März bin ich nach knapp acht Jahren Afrika wieder nach Deutschland zurückgekommen. Zeit für eine Zwischenbilanz in ungeordneter Reihenfolge.

(1)
In Frankfurt entschuldigt sich eine Lautsprecherstimme für eine vierminütige Verspätung der S-Bahn. Der Mann neben mir murrt: „So ein Quatsch, die kommt doch immer zu spät.“

(2)
Nach gefühlt drei Minuten Regen beginnt – so sicher wie das nächste Katzenfoto-Posting – allgemeines Social-Media-Geheule. Dabei finde ich das Wetter viel besser, als erwartet.

(3)
Deutsche Autofahrer blinken beim Abbiegen, Anhalten am Fahrbahnrand und zu allen anderen Gelegenheiten, die Blinken erforderlich machen, genauso wenig wie Kenianische.

(4)
Unfugtreibende Kinder, zum Beispiel im Supermarkt, in der Post oder an der Tankstelle, werden in Kenia auf Freundlichste davon abgehalten. Hier werden sie entweder still leidend angestarrt oder angeschnauzt.

(5)
Auch in Deutschland gibt es tatsächlich Stromausfälle. Ich hätte vielleicht doch meine LKW-Batterien, die in der Speisekammer standen, und den Generator mitnehmen sollen.

(6)
Deutsche hängen Schilder an ihre Gartenzäune auf denen ein <Name eines beliebigen Kampfhundes eintragen> zu sehen ist. Daneben steht in Frakturschrift: „Ich brauche 5 Sekunden bis zur Gartentüre. Und Du?”

(7)
Beim Sommermärchen 2006 fand ich es ok, mit Deutschlandfahnen am Auto durch die Gegend zu fahren. Jetzt, mit AfD, Pegida und Co. im Nacken, hat das schon wieder ein Gschmäckle.

(8)
In Kenia gab’s Mobilfunk – mit Datenverbindung – sogar zwischen Giraffen und Elefanten im Nationalpark. Hier zerbröselt das Gespräch kurz nach Verlassen des Frankfurter Hauptbahnhofes.

(9)
Der deutsche Wald ist so gut wie leer. Das Kind aus Afrika fragt beim Spaziergang, ob wir denn auch Tiere sehen werden. Ausbeute nach zwei Stunden Fußmarsch: eine Taube, ein Eichhörnchen und zwei Nacktschnecken.

(10)
Wir sind ganz klar Vorreiter in Sachen Emanzipation. In Kenia war ich der einzige Mann, der sein Kind zum Kindergarten gebracht und wieder abgeholt hat. Hier sind es außer mir noch zwei – bei 45 Kindern. Der Rest: Mütter.

Wird fortgesetzt…

 

Kleine Weisheiten

Nach dem Kindergarten wollen Bb und ich immer zum kleinen Supermarkt um die Ecke. Das heißt: Sie will, und ich beuge mich. Dies sogar in zweifacher Hinsicht: ihrem Wunsch und auch ganz physisch. Denn sie ist ordentlich müde und spricht ganz leise. Um sie zu verstehen, muss ich meine Ohren auf der Höhe ihres Mundes justieren. Kaum hörbar sagt sie „Juicy kaufen“, tritt dann gewaltig an und fährt mir auf ihrem Tretroller davon. Ich bleibe alleine und tief gebeugt auf der Straße zurück und darf sehen, wie ich hinterherkomme.

In der einen Hand der schon halb ausgetrunkene “Juicy”, ein kleines Rotbäcken-Tetraback, blättert Bb mit der anderen nach dem Einkauf durchs Regal mit den Zeitschriften und Zeitungen. Bei einem bunten Magazin angekommen hält sie inne. „Was ist das, Babaa?“, fragt sie.

Ich bin der Meinung, ein Vater sollte seinem Kind Sicherheit vermitteln und deshalb stets auf alles eine Antwort haben. Diese Einstellung führt bei unseren Spaziergängen hin und wieder zu seltsamen Begegnungen mit Nachbarn und Passanten, die nicht immer zur Verbesserung meines Rufes in der Nachbarschaft beitragen.

Sieht Bb zum Beispiel jemanden, der etwas, das wie Möbel aussieht, vom Haus auf die Straße trägt, fragt sie: „Was macht der Mann, Babaa?“ Ich antworte dann, zunächst einmal handele es sich hier gar nicht um einen Mann, sondern um eine Frau, und füge hinzu dass diese Frau vermutlich gerade ihren Sperrmüll auf die Straße stelle.

Nun ist E. der Meinung, dass ich nicht flüstern kann. Immer wenn ich ihr etwas zuflüstere, unterbricht sie mich und sagt relativ laut, meine Stimme sei zu tragend, zu durchdringend, kurz: nicht flüstergeeignet. Ich bin da zwar anderer Ansicht, aber in diesem Fall scheint sie recht zu haben. Die sperrmülltragende Frau schaut uns jedenfalls sehr missbilligend an.

„Was hat die denn? Ist sie vielleicht doch ein Mann?“ durchfährt es mich. Wir gehen weiter, und als ich mich noch einmal diskret umdrehe, scheint es mir, als trüge die Frau die möbelartigen Gegenstände eher ins Haus hinein, als aus dem Haus hinaus. Möglicherweise habe ich also gerade einen wertvollen Biedermeier-Sekretär zum Sperrmüll erklärt.

Das alles ficht mich aber nicht an, als Bb mich am Zeitschriftenregal im Supermarkt fragt, was dies hier sei. Es zeigt auf dem Cover eine stark geschminkte Zwölfjährige, oder auch eine Neunzehnjährige, die versucht, wie zwölf auszusehen, mit komplexer Friseur. Ich antworte, es handle sich hier um ein Magazin für Mädchen und bin mir dieses Mal recht sicher, denn das große gelbe Wort am oberen Rand der Titelseite sagt genau das.

Worauf Bb sagt: „Das brauch‘ ich nicht, ich bin ja schon ein Mädchen.“ Schwingt sich auf ihren Roller, tritt an und zischt mit perfektem Timing durch die automatisch aufschwingende Supermarkttüre hinaus. Und das einhändig, denn in der anderen hält sie ja die Rotbäckchen-Tüte an der sie im Wegfahren nuckelt. Ich bin noch kurz angerührt von der Weisheit des Kleinkindes. Dann rufe ich “Don’t drink and drive!” und hetze ihr nach Draußen hinterher.

Lob des stationären Handels. Wieder nicht.

Ich kann es einfach nicht lassen. Nach dem großartigen Einkaufserlebnis bei Baby-Walz in der Frankfurter Innenstadt, startete ich eine neue Offline-Mission: Ein Kindersitz fürs Fahrrad plus Schutzhelm sollten es sein. Anvisierte Einkaufsquelle war diesmal Zweirad Müller im einem nahegelegenen Gewerbegebiet. Parkplatzprobleme waren immerhin nicht zu erwarten.

Nach Betreten des Ladens wurde ich freudig begrüßt. Kindersitze hätten sie. Hatten sie auch. Genau ein Modell. Glücklicherweise wollte ich genau das haben. Bb setzte sich hinein, Sitz passte, alles gut.

Auch Helme waren vorrätig. Auf einem Regal waren sie aufgereiht wie Trophäen einer seltsamen Jagdgesellschaft. Eines einte alle: Sie waren sehr, sehr hässlich. Das hatte ich schon bei meiner Online-Recherche zum Thema gesehen und dabei die Marke Nutcase entdeckt, deren Design mir gut gefiel. Außerdem hatten sie gute Bewertungen von Kunden wie auch von Testern erhalten. Also fragte ich danach.

Wie die Marke nochmal hieße, fragte Verkäuferin. Ich wiederholte den Namen. Nein, kenne sie nicht.

Das sei aber seltsam, sagte ich, denn im Internet…

Oh, Gott. Ich hatte das böse Wort gesagt. Wie gedankenlos von mir. Hätte ich doch behaupten können, einen dieser Helm bei einem Freund von Bb gesehen zu haben. Aber es war zu spät. Die Verkäuferin reagierte wie Steve Martin in dem Film „Tote tragen keine Karos“ auf das Wort „Cleaning woman” (Putzfrau).

Wenn ich mich richtig erinnere, erklärt Steve danach, dass sein Vater seine Mutter wegen der Putzfrau verlassen habe. Daher das Trauma.

Mit den Preisen im Internet könne man nicht mithalten, sagte die Verkäuferin. Man sei ja schließlich ein Fachhandel. Ich wandte ein, dass ich gar nichts über den Preis gesagt, sondern nur nach der Marke gefragt hatte. Und um ihr glaubhaft zu vermitteln, dass ich von ihr nicht erwartete, Helme einer nordkoreanischen Hinterhoffirma zu verkaufen, setzte ich hinzu, diese hätten außerdem vergangenes Jahr bei Stiftung Warentest…

Ohgottogott. Jetzt hatte ich das zweite böse Wort gesagt. Musste das denn wirklich sein? Nun wechselte die Verkäuferin von Schnappatmung zu Sarkasmus und sprach die Worte, zu enden jedes lästige Kundengespräch über Tests von Produkten die man nicht kennt, nicht hat oder nicht will: Alles nur Schwindel, das sei seit dem ADAC-Skandal ja wohl jedem klar.

Passen müsse der Helm. Das sei das Wichtigste.

Ich nickte zustimmend und hub zu sagen an, wie schön es wäre, wenn der Helm nicht nur gut passe, sondern auch gut gefiele. So wollte ich eine Brücke bauen, die uns aus der Welt der Verschwörungstheorien wieder zurück in den Verkaufsraum von Zweirad Müller führen sollte.

Doch sagte sie, wenn man den Helm aber Internet bestellte, könnte man natürlich nicht sicher sein, dass er richtig passe.

Nur fünf Minuten in einem Fachgeschäft hatten mich moralisch zu Boden geschmettert. Erst hatte ich mich durch die Erwähnung von Böses Wort I „Internet“ als Geizhals und Verräter verdächtig gemacht, dann durch Böses Wort II „Warentest“ als Depp entpuppt, der offenbar Lügen (vielleicht sogar die der so genannten Lügenpresse?) glaubte.

Wie einfach war dagegen Kenia gewesen. Dort gab es kaum ernstzunehmende Fachgeschäfte und nur rudimentären Online-Handel und in beiden oft nur billigen Mist aus China.

War etwas in einem Laden nicht vorhanden, schüttelte der Verkäufer entweder bedauernd den Kopf oder schrieb sich meine Telefonnummer auf mit dem Versprechen, sich zu erkundigen und mich zurückzurufen. Unzählige Male habe ich meine Telefonnummer hinterlassen. Niemals hat mich ein Verkäufer zurückgerufen. Ein lustiges Spiel.

Wer Qualität wollte, bestellte in Europa online und ließ die Waren auf etwas undurchsichtige Weise von einem von Somaliern betriebenen Transportunternehmen importieren. Oder wartete darauf, dass irgendein Europäer das Land verließ und seine gebrauchten Sachen verkaufte. Auch uns waren vor unserer Abreise Kinderwagen, Autositz, Waschmaschine und Kühlschrank buchstäblich aus den Händen gerissen worden.

Ich war aber nicht mehr in Kenia, sondern in einem deutschen Fachgeschäft und bereute es schon wieder sehr. Ich ließ die Helme hängen und kaufte, weil ich nun schon einmal dort war, den Sitz.

Die Verkäuferin holte den, den wir zuvor probiert hatten. Er war ziemlich schmutzig, irgendwie verkleckert. Ich fragte, ob es denn keinen Neuen gäbe. Nein, nur den. Außerdem sei die Originalverpackung hässlich. Mit diesem seltsamen Argument ließ sie mich stehen und ging zur Kasse. Ich schleppte ihr den Sitz quer durch den Laden hinterher, bezahlte und ging.

Einen Helm fand etwas später ich bei Per Pedale in Frankfurt, allerdings keinen von Nutcase. Die wollten trotz theoretisch richtiger Kopfgröße nicht passen.

Bei einer Gemüse-Lasagne, die Bb und ich uns in einem Straßencafe teilten, zog ich ein Fazit dieser zweiten Offline-Shopping Aktion. Hätte ich das alles online erledigt, hätte ich:

  • Mich nicht gegen die Unterstellung verteidigen müssen, mit dem Internet den Preis drücken und damit den Fachhandel zerstören zu wollen;
  • Mich nicht mit Totschlagsargumenten für dumm verkaufen lassen müssen;
  • Mich also nicht als Verräter, Pfennigfuchser und Depp fühlen müssen;
  • Ein fabrikneues, sauberes, originalverpacktes Produkt vom Postboten bis an die Türe gebracht gekommen;
  • Die Helme mehrere Anbieter bestellen, probieren und die unpassenden wieder zurückschicken können (was etwas unfair gegenüber Per Pedale wäre, denn dort hat sich der Verkäufer sehr geduldig um uns gekümmert).

Später am Nachmittag kam noch hinzu, dass (aber das ist jetzt reine Spekulation) sich in der Originalverpackung des Fahrradsitzes vielleicht ein Hinweis darauf befunden hätte, wo die Montageanleitung versteckt ist. Nämlich hinter einer Klappe auf der Unterseite des Sitzes selbst. Das entdeckte ich aber erst nach einer Viertelstunde freier Improvisation, während der ich den Sitz ratlos drehte und wendete.

Ein entsprechender Hinweis war offenbar auch zu viel verlangt.

Dafür war der Fachhandel viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Irgendwie anders

Letztens schickte mir der Kindergarten eine Mail. Es würde jetzt wärmer werden. Eltern sollten darauf achten, ihre Kinder immer gut vor der Sonne zu schützen. Also eincremen, Mütze auf, und einfach nicht zu lange in der Sonne sein.

Das nenne ich Service! Denn Jahreszeiten gab es Kenia nicht so viele. Eigentlich nur zwei. Die warme und die regnerische. Es hätte also durchaus sein können, dass wir den drohenden Sommer hierzulande übersehen würden.

Und wenn schon. Ich erlaube mir ein stilles Lächeln. Wenn die kleine Bb auf etwas hierzulande gut vorbereitet ist, dann ist es das bisschen Sonne. Die 1758 Sonnen-Stunden in Frankfurt im Jahr (in Nairobi sind es 2464) steckt sie locker weg.

Und sonst?

Gestern beim Kindergeburtstag gewesen. Motto-Party. Frozen*. Wer’s nicht kennt, hier die Kurzanalyse von einer meiner Lieblings-Kritiker-Seiten, rogerebert.com: „…will die Konventionen des typischen Disney-Prinzessinnen Films wiederbeleben, zugleich über den Haufen werfen und dabei die ästhetischen Bedingungen für maximales Merchandising erfüllen.“

Yep.

Ich habe den Film gesehen. Ich habe während meiner fünf Jahre in Kenia alle Filme gesehen. Alle? Ja, alle. Außerdem schaue ich tatsächlich gerne Animationsfilme. Zu meinen Favoriten gehören „Spirited Away“, „Up“, „Ghost in the Shell“ (ok, keine Animation), „The Incredibles“ und „Bolt“ – vor allem wegen des großartigen Sidekicks, ein Hamster namens Rhino.

Es liegt also nicht an einer generellen Abscheu vor Animationsfilmen, dass ich Frozen eher lahm fand. Vor allem die Songs. Was eher schlecht ist, denn wenn etwas an Disney-Filmen gut zu sein hat, sind es die Songs.

Die Zwillinge, zu deren Party die kleine Bb nun eingeladen war, teilten meine Meinung offenbar nicht. Denn es gab Frozen-Kuchen, Frozen-Kekse, Frozen-Teller, Frozen-Tassen, Frozen-Löffel und Frozen-Songs. Und einen Frozen-Live-Auftritt.

Irgendwann mussten sich alle Kinder im Wohnzimmer versammeln. Ein kleiner Lautsprecher wurde aufgebaut, ein Frozen-Song angeschaltet. Während sie warteten, rätselten die Kinder, was nun passieren würde. Eines sagte, vielleicht käme jetzt der Weihnachtsmann durch die Türe. „Oder der Osterhase“, warf ich ein, wurde aber sofort von mehreren Vierjährigen belehrt, das sei Quatsch, der wäre ja erst kürzlich da gewesen.

Die Flügeltüre öffnete sich. Herein kam die Prinzessin. Die mit den silbernen Haaren, dem blauen Kleid, die tragische, eisige – Elsa. Diese Elsa war allerdings etwa eins Achtzig groß und 25 Jahre zu alt. Sie tanzte, schwenkte ihr Glitzerkleid und bewegte den Mund zum Playback.

Später durften sich alle Kinder von ihr schminken lassen. Soweit ich mich erinnere wollten alle Prinzessin sein. Gut, dass es bei Frozen gleich zwei davon gibt.

Dann kam Bb an die Reihe, die sich während des Songs die ganze Zeit die Ohren zugehalten hatte. Sehr zur Überraschung aller anderen teilnehmenden Kinder und Mütter (muss ich erwähnen, dass ich der einzige Mann auf der Party war?) wollte sie eine Gazelle sein.

Auch die schminkende Ex-Prinzessin schien überfordert. Sie konnte ja nicht wissen, dass Besucher in Kenia uns einst ein Stofftier mitgebracht hatten. Es war ein Elch und Bb, die dafür spontan eine passende Bezeichnung suchte, entnahm ihrem noch kleinen, lokal geprägten Erfahrungsschatz die nächstliegende: Gazelle.

Ich übersetzte. Als die Schminkende auf ihrem Handy nachschlagen musste, ob Sven (der Elch) eigentlich Schnurrhaare hat, verlor Bb die Geduld, hopste vom Stuhl und aß noch eine rosa-glitzernde Gummimaus.

Während ich ihr zusah, dachte ich hoffnungsvoll darüber nach, ob uns vielleicht die Prinzessinnenphase erspart bliebe. Falls nicht, wird es in diesem Blog demnächst Beiträge mit Titeln wie diesem geben – „Rosa, Prinzessin….ahhhh wie lange dauerte die bei euch an?“, den ich gerade in einem Eltern-Forum gefunden habe.

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* Und hier die deutschen Filmtitel:

Frozen = Die Eiskönigin – Völlig unverfroren
Spirited Away = Chihiros Reise ins Zauberland
Up = Oben
Ghost in the Shell = siehe links
The Incredibles = Die Unglaublichen
Bolt = Bolt: Ein Hund für alle Fälle

Lob des stationären Handels. Nicht.

Eigentlich wollte ich ab sofort nett sein. Wollte den stationären Handel nicht bashen. Nach meiner Rückkehr aus Afrika bodenständig werden. Amazon & Co. abschwören. Nicht mehr global, sondern regional oder lokal einkaufen. Doch dann fuhr ich mit dem Auto und der dreijährigen Bb auf dem Rücksitz nach Frankfurt, und alles kam ganz anders.

Eine Freundin, die auch in meiner neuen kleinen hessischen Heimatstadt wohnt, schimpfte ganz fürchterlich mit mir. Beiläufig hatte ich erwähnt, dass ich unsere neue Miele-Waschmaschine im Online-Handel erstanden hatte. „Pfui“, sagte sie, „hier gibt es doch einen Fachhändler direkt im Ort. Stopf‘ doch den Großkonzernen nicht das Geld in den Hals!“

Da hatte sie Recht.

Ich schämte mich sehr.

Und wollte die Sache bei nächster Gelegenheit wiedergutmachen.

Die dreijährige Bb wird tagsüber doch hin und wieder noch müde. Also beschließe ich eines Tages, einen Kinder-Buggy zu kaufen. Die schimpfende Freundin im Sinn, fahre ich mit der hellwachen und laut singenden Bb auf dem Rücksitz („Igelchen, Igelchen, schau‘ mal ins Spiegelchen…“) nach Frankfurt zu Baby-Walz.

Warum mit dem Auto? Weil in der Innenstadt gerade der S-Bahn-Tunnel renoviert wird und deshalb während der Osterferien gesperrt ist. Wir wären nur auf Umwegen und mit zwei Mal Umsteigen ans Ziel gekommen. Mit einem Kleinkind im Schlepptau? Ohne Buggy (den wollten wir gerade erst kaufen)? Muss nicht sein.

Das Navigationssystem sagt: „Geh‘ parken im Karstadt.“ Mache ich. Von der Parkebene im Erdgeschoss wandern wir durch einen Tunnel und landen im Supermarkt im Untergeschoss. Fragt mich, wie das geht. Die Rolltreppe rauf, die Bb immer mit einem großen Sprung und unter „Uiii“-Rufen meistert, zur Straßenebene. Wo geht’s hier zur Fußgängerzone? Ich sehe nichts außer übermannshohen Werbeplakaten für Parfüm und Hautpflege.

Endlich der richtige Ausgang. Um die Ecke zu Babywalz. Große Auswahl an Kinderwagen und -buggys. Eine Verkäuferin zeigt mit Modelle zwischen 100 und 200 Euro. Ich erinnere mich daran, dass ein Freund auf die Marke Maclaren schwörte. Mache den Fehler, dies der Verkäuferin gegenüber zu erwähnen.

Rrriiing!

LUXUSALARM!!!

Die Augen der Frau leuchten wie beim Terminator.

Sie zeigt mir die Maclarens, ab 380 Euro aufwärts. Ich sage, naja, das sei dann vielleicht doch zu teuer. Schließlich bräuchten wir das Gefährt nicht mehr lange. Bb ist ja schon drei Jahre alt. Aber die Verkäuferin hat sich festgebissen. Kiefern wie Stahlwerke. Das zuvor gezeigte Produkt, das eben noch gut war, wird nun schlechtgemacht. Der Maclaren sei doch qualitativ um so vieles besser. Ich wehre mich mit Händen und Füßen.

Nein. Doch. Nein. Doch.

Eine andere Kundin in gesteppter Daunenjacke mit Pelzkrägelchen entscheidet sich für einen Maclaren. Ich habe keinen Pelzkragen. Dafür ein müdes Kind. Bleibe beim billigeren Buggy. Auf dem Weg zur Kasse fühle ich den verächtlichen Blick der Verkäuferin im Rücken. Dort sage ich, „Sie brauchen ihn nicht einzupacken, wir nehmen ihn gleich so.“ Es stellt sich heraus, dass sowieso nur noch das Vorführmodell da ist. Ich hätte aber gerne einen neuen. Neu gibt’s nur den Maclaren. So ein Zufall.

Aber Bb sitzt schon drin im Kinderwagen. Die Augen fallen ihr zu. Also zahle ich und verlasse den Laden. Wo geht’s nochmal zum Parkhaus? Es nieselt. Bb zieht im Halbschlaf den Regenschutz zu. Schnell rein in den Karstadt. Rolltreppe geht nicht mehr wegen Kinderwagen. Wo ist der Lift? Irgendwo ganz hinten. Runter in den Supermarkt, den Tunnel entlang, durch die Türe ins Parkhaus.

Kein Kassenautomat. Ich irre ein paar Minuten umher. Bb quengelt: „Brezel haben!“ Zurück durch den Tunnel in den unterirdischen Karstadt-Supermarkt. Frage eine Kassiererin nach dem Kassenautomaten. Den gäbe es nur im ersten Stock.

Ich kalkuliere: Soll ich den ganzen Weg zurück zum Lift, und eine Etage höher dann wieder zurück, und nach Bezahlen dasselbe noch einmal? Nein. Ich gehe zum xten Mal den Tunnel entlang. Immerhin ist direkt neben der Türe zur Parkgarage eine Treppe. Ächzend schleppe ich Kinderwagen samt Kind hinauf.

Zum Dank möchte der Parkautomat von mir mehrere Euro. Für eine Stunde und fünf Minuten. Mit Kinderwagen samt Kind die Treppe wieder runter. Abwärts geht‘s deutlich leichter.

Am Auto: Kind, wie erwähnt müde, will nicht aus dem Kinderwagen in ihren Kindersitz. Quengelt. Wehrt sich. Es kommt zum Handgemenge. Parkschein fällt herunter und weht unters Auto. Stopfe Kind in Sitz. Kind schreit. Die Stahlbetonwände hallen schrill. Kniee schwitzend im Dreck und angle nach Parkschein unter dem Auto.

Endlich im Auto. Raus aus dem Parkhaus. Drei Ampeln später löst sich der rote Schleier vor meinen Augen langsam auf. Ich komme ich zur Besinnung.

Warum?

Warum habe ich das bloß nicht online bestellt?

Ich hätte:

    – Mir 40 Kilometer Fahrstrecke erspart;
    – Kein endloses Hin und Her vom und zum Parkhaus erlebt;
    – Mich nicht handfest gegen ein teureres Modell wehren müssen;
    – Höchstwahrscheinlich ein nagelneues Produkt bekommen;
    – Erst einmal User-Bewertungen lesen können;
    – Keine Parkgebühren bezahlen müssen;
    – Alles in 10-15 Minuten erledigen können;
    – Das Produkt innerhalb von 14 Tagen zurückgeben können.

Sorry, Innenstädte von Großstädten.

Ihr nervt.

PS: Wegen dieses Blogposts recherchiert – der Kinderwagen ist made in China, der Hersteller sitzt in Großbritannien und Baby-Walz gehört zu einer global operierenden Private-Equity Gesellschaft. Von wegen lokal…