Auf dem Weg zu einem Restaurant halten wir an einer Kreuzung. E. schaut aus dem Fenster. „Seltsam“, sagt sie, mehr zu sich selbst, „es ist, als wäre da nie etwas gewesen.“ Ich verstehe nicht, was sie meint und schaue in ihre Richtung. Eine spärlich beleuchtete Straße führt von uns weg. Rechts davon ist es dunkel. Dort liegt die Westgate Mall. Um diese Zeit sollte sie hell erleuchtet sein. Doch die Lichter sind aus. Jetzt verstehe ich. Als wäre da nie etwas gewesen.
Samstag, früher Nachmittag
Ich bin zuhause und lese erst bei Google News und dann bei Twitter Meldungen und Berichte über eine Schießerei im Einkaufszentrum. Aus dem Raubüberfall wird im Laufe des Nachmittags ein terroristischer Angriff und dann eine mehrere Tage dauernde Geiselnahme. Sie endete mit Dutzenden Toten, hunderten Verletzten, einer zerstörten Shopping Mall, vielen Fragen und nicht enden wollendem Schrecken.
Zunächst ist da die Nachricht an sich. Bewaffnete greifen ein Einkaufszentrum an, in dem ich selbst bisher etwa drei Mal die Woche gewesen bin. Bei zahllosen doppelten Espressi sind dort viele Geschichten dieses Blogs entstanden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie nun ein Dutzend Vermummte mit automatischen Waffen über die Tische feuern.
Dann kommen die Fragen nach den Opfern. Samstags ist die Mall richtig voll. Wie geht es den Leuten? Hatten sie eine Chance herauszukommen? Kennen wir jemand, der dort war oder noch ist? Erleichtert preisen E. und ich den Zufall, heute nicht einkaufen gegangen zu sein. Am Abend zuvor hatten wir noch dort gegessen und danach im Kino im obersten Stockwerk einen action-reichen Film gesehen. Jetzt liegen da echte Leichen.
Es folgen Anrufe von Freunden und Bekannten. Habt ihr schön gehört? Seid ihr selbst dort gewesen? Die Soundso sei mit ihren beiden Kindern gerade noch rausgekommen. Ein paar Stunden später eine Warnung der Botschaft. Die Sicherheitslage sei unklar, man solle am heute und morgen besten zuhause bleiben. Dem Rat zu folgen, fällt uns leicht. Niemand geht jetzt freiwillig auf die Straße
Samstag, später Nachmittag
Mittlerweile ist aus den spärlichen Ticker-Meldungen ein Medienereignis geworden. Immer mehr Kameras richten ihre Objektive auf das Gebäude. Aus Fenstern und Türen sehen wir verängstige Menschen fliehen, Verletzte und Tote werden davongetragen. Erst Polizisten, dann Soldaten nehmen Deckung hinter Parkautomaten, Blumenkübeln und Treppengeländern.
Eine Frau erzählt einem Journalisten, sie sei mit ihren Kindern durch den Notausgang geflohen. Viele andere seien ihr entgegengekommen. Die Schießerei hatte auf der Straße begonnen. Die anderen dachten wohl, in der Mall sei es sicherer. Wie viele in ihr Verderben gelaufen sind? Hätten wir an ihrer Stelle die richtige Entscheidung getroffen?
Sonntag
Gleich nach dem Aufstehen schalten wir den Fernseher an. Wir sind nonstop live dabei, aber eigentlich geschieht nichts. Der Tag vergeht zäh. Großaufnahme: Ein Soldat wirft eine leere Wasserflasche in die Büsche. In ihrer Not, die Sendezeit zu füllen, filmen die Kameras jede Bewegung. Die Sprecher der kenianischen Regierung, der Polizei, der Armee und des Roten Kreuz widersprechen sich ständig. Wie es scheint, weiß keiner genau, was los ist.
Montag
Die Lage nicht übersichtlicher geworden. Im Gegenteil. Das Leben hat jetzt endgültig schizophrene Züge angenommen. Mein Weg führt unweit der Mall vorbei. Mittlerweile gab es dort eine Explosion, das Gebäude brennt. Während ich mit Blick auf die schwarze Rauchwolke im Stau stehe, denke ich an die Termine der Woche. Derweil werden in der Mall noch 60 Geiseln vermutet.
Jede Begrüßung an diesem und den folgenden Tagen verläuft ähnlich. Ah, gut, dass Dir nichts passiert ist. Schrecklich, nicht wahr? Jeder kennt jemanden, der auf die eine oder andere Weise betroffen ist. Die Zahl der Opfer steigt. Es wird genau aufgeschlüsselt, wie viele Kenianer, Briten, Franzosen oder Kanadier umgekommen sind.
Auf dem Weg nachhause will ich ein paar Lebensmittel besorgen. Etwa 500 Meter von der Westgate Mall entfernt liegt ein anderes Einkaufszentrum. Es hat sogar geöffnet. Beim Hineinfahren winkt mich der Wächter an der Schranke einfach durch. Mein Auto will er nicht durchsuchen. Am Eingang der Mall will ich zwei anderen meine Tasche zeigen. Kontrollen sind hier normal. Doch sie winken ab. Außerhalb der Mall stehende Hunderte Schaulustige. Der Rauch ist von hier aus gut zu sehen.
Dienstag
Das Feuer ist aus. Ein Teil der Mall ist eingestürzt. Die Medien berichten weiter von Schusswechseln im Inneren. Plötzlich ist alles vorbei. Der Präsident hält eine Ansprache. Er lobt die Sicherheitskräfte, sie hätten den Feind beschämt, und ordnet eine dreitägige Staatstrauer an. Auf den Straßen ist es ruhig. Im Radio höre ich einen Journalisten, der davon erzählt, wie die kenianische Armee Raketenwerfer ins Gebäude getragen hatte.
Und seitdem?
Neuigkeiten von offizieller Seite bleiben aus. Die Zahl der Opfer bleibt konstant. Noch immer werden 40 Menschen vermisst. Der Totenzähler ist von der Regierung angehalten worden.
Sicherheitskräfte durchkämmen das Gebäude, heißt es. Immer mehr Bilder vom Inneren der Mall dringen an die Öffentlichkeit.
Das Parkdeck, das zugleich Dach des Supermarktes war, ist nach unten gefallen. Ausgebrannte Autowracks liegen wie achtlos weggeworfenes Spielzeug dort, wo ich vor ein paar Tagen noch nach Olivenöl gesucht habe.
Ladenbesitzer werden zu ihren Shops in die Mall gelassen. Sie klagen danach über Plünderungen. Auf dem Boden des Telefonladens liegen aufgerissene Schachteln verstreut. Sie sind leer, die Telefone sind weg.
Die Medien feiern einen Mann namens Haji, der noch am Samstag mit einer Pistole bewaffnet in die Mall stürmte und seinen Bruder retten wollte. Sogar im ZDF sehen wir die Geschichte. Er erzählt, dass er und ein paar Polizisten schon am Samstagnachmittag die Terroristen in die Enge getrieben hatten. Doch dann seien sie zurückbeordert worden. Die Armee habe übernommen.
Zeitungen berichten, dass keine Terroristen in den Trümmern der Mall gefunden wurden, weder lebend noch tot. Sie seien durch einen Abwasserkanal entkommen. Auch ihre Zahl wird reduziert. Es seien keine 15 gewesen, höchstens fünf oder sechs.
Auch waren weder US-Amerikaner, oder die ominöse „Weiße Witwe“ aus England beteiligt, wie es die kenianische Regierung zwischendurch öffentlich vermutet hatte. Die Fragen werden mehr statt weniger. Zum Beispiel zur Rolle des kenianischen Militärs.
Was hat die kenianische Armee tagelang in dem Gebäude getrieben? Bis zum Schluss waren Schüsse zu hören gewesen, die Explosion erst am Montag geschehen. Die Bilder zeigen zerstörte schusssichere Scheiben der Banken. Das Geld ist weg. Auch das Spielcasino ist offenbar ausgeraubt worden.
Mangels offizieller Informationen fangen die Leute auf der Straße an, Eins und Eins zusammenzuzählen. Die Armee dementiert. Man habe das viele Geld nur in Sicherheit gebracht und würde es nun zurückgeben. Die Regierung sortiert das Management der Sicherheitsorgane neu.
Der kenianische Präsident und sein Stellvertreter sind wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt. Der Stellvertreter ist bereits zu Anhörungen dort und darf wegen der Westgate Mall den Prozess für eine Woche unterbrechen.
Die ersten Toten werden begraben. Im Supermarkt gleich nebenan wurde eine improvisierte Gedenkstätte aufgestellt. Menschen entzünden dort Kerzen. Die meisten Straßen sind wieder geöffnet, nur direkt vor der Westgate Mall versperrt ein Metallzaun Durchfahrt und Sicht.
Ein Freund sagt, abgesehen von alledem, hätten auch wir etwas verloren. Die Westgate Mall war in unserem Stadtteil auf ihre Art ein kulturelles Zentrum, mit guten Restaurants und Cafés, dem großen Supermarkt, einem halbwegs anständig sortierten Buchladen und dem Kino. Abgesehen von alledem hat er sogar Recht.