Das Leben ist eine ständige Einreise. Wieder einmal stehe ich am Schalter im Flughafen in Nairobi und lege zum gefühlt hundertsten Mal meinen Reisepass zur Prüfung vor. Normalerweise verläuft sie sprach- und emotionslos. Weder erwidert der Beamte meinen freundlichen Gruß, noch zeigt er eine andere menschliche Regung. Doch dieses Mal findet er in meinem Reisepass etwas, das ihn sogar zu einem mehrsekündigen Augenkontakt mit mir zwingt.
Eine gelungene Einreise nach Kenia beginnt schon lange vor der Landung. Flugbegleiter verteilen Zettel, die immer und ohne Ausnahme aus Dantes Höllenkreis Nummer 6, Zimmer 370, Abteilung Formularwesen zu kommen scheinen. Dort sitzt vermutlich ein Oberregierungsdämon, der den Tag über nachsinnt, wie Einreiseformulare so unverständlich zu formulieren und so schlecht zu gestalten wären, dass Normalsterblichen ein korrektes Ausfüllen kaum gelingen kann und schon gar nicht an Bord eines Flugzeuges, das gerade durch Höhenwinde holpert.
Früher habe ich mir immer mit Weihwasser beholfen, das ich auf die Rückseite des Formulars sprühte. Seitdem jedoch die Mitnahme von Flüssigkeiten ins Flugzeug aus Sicherheitsgründen untersagt ist, muss ich zu anderen Mitteln greifen. Ich lese beispielsweise eine Weile in der Bibel, 1 Timotheus 1.7 beispielsweise, trage Knoblauch um den Hals und versuche auf dem Flug, Alkohol wie auch allzu unterhaltsamen Filmen und sündigen Gedanken zu entsagen, um das himmlische Top-Management gnädig zu stimmen.
Mit Gottes Hilfe gelingt es mir also auch dieses Mal, das Einreiseformular auszufüllen, das der Angabe des Geschlechtes, also „Male“ oder „Female“, genau den gleichen Raum gibt, wie der Angabe wann, wo und von welchem Amt der Reisepass ausgestellt wurde. An langen Winterabenden habe ich geübt und bin zu einiger Perfektion gelangt, mit einem über Stunden feingeschliffenen H4-Bleistift die Worte, „01.09.2003, Einwohnermeldeamt der Stadt Frankfurt“ auf einem Strich unterzubringen, der einen knappen Zentimeter lang ist.
Bei der Landung wartet die nächste Prüfung. Es gilt, sich eine Pole Position im Gang zu sichern, denn beim Run auf den Exit wollen alle Michael Schumacher sein. Nur so ist das 300-fache Aufklicken der Gurte zu erklären, das eine hundertstel Sekunde, nachdem der Pilot es erlaubt hat, ertönt. Alle 300 befreiten Passagiere stürzen alle auf einmal zu den Einreiseschaltern. Die einen, weil sie sich auskennen, die anderen, weil sie den Eiligen wichtiges Geheimwissen unterstellen und deshalb hinterherrennen. Vier Einreiseschalter gibt es hier: Ganz links der für Leute, die ein Visum brauchen, rechts davon der für Leute, die schon ein Visum haben, dann der für Leute, die ostafrikanischer Herkunft sind und ganz rechts der Schalter für Kenianer.
Die Mengenverteilung vor den Schaltern ist üblicherweise so: Ganz links stehen 250 Personen, daneben 40, dann 7 und schließlich ganz rechts 3. Selbstverständlich, man ahnt es schon, ist es völlig ausgeschlossen, dass Leute von ganz links an einem der Schalter weiter rechts anstehen dürfen. Dort warten nicht nur viel weniger Einreisende, die Prozedur ist auch viel kürzer. Es ist ja viel einfacher, den Pass eines Kenianers zu kontrollieren, als einem schlecht englisch sprechenden Deutschen Touristen ein Visum auszustellen. Je weiter rechts, desto leerer die Schalter, und die Beamten schauen angestrengt woanders hin.
Ich habe es gut. Ich stehe in der zweiten Reihe von links, denn ich habe ein Dauervisum. Gerne warte ich dort und schaue mir die Schlange links von mir an, wo übermüdete Passagiere, die, von Kopf bis Fuß in professioneller Safari-Ausrüstung gekleidet, noch vor dem Gepäckband zur Löwenjagd bereit sind, mit Bordtasche, Reisepass, Kugelschreiber und Einreiseformularen jonglieren. In meiner Schlange dauert das Warten höchstens 20 bis 30 Minuten. Quasi nichts im Vergleich zur Ewigkeit eines 14-Stunden Fluges in der Economy-Class.
Gerne nähere ich mich später mit einer Mischung aus Schüchternheit und Jovialität dem Einreisebeamten, denn es gilt, nicht allzu selbstbewusst aufzutreten, aber auch nicht zu unterwürfig. Beides ist verdächtig. Gerne lege ich auch zum wiederholten Male sämtliche Finger auf einen Scanner und schaue in eine Kamera, die wieder ein Bild von mir macht und es vermutlich mit den alten Bildern vergleicht. Eigentlich wäre es ein toller Service, wenn einem der Computer gleich eine kleine Analyse anfertigt, wie beispielsweise: „Heute sehen Sie aber besser aus, als letztes Mal, Herr Hasenpusch“ oder, im schlechteren Fall: „Sie sind in den vergangenen 73 Tagen visuell um zwei Jahre gealtert. Bitte besuchen Sie umgehend eines der folgenden SPAs in Nairobi.“
Obwohl ich meinen Reisepass immer, IMMER, mit der korrekten Seite in Richtung Einreisebeamten halte und das Formular bereits zwischen die Seiten gelegt habe, wo sich mein Visum befindet, zieht der Beamte jedes Mal das Formular heraus und schließt den Pass. Natürlich muss er daraufhin gefühlte Stunden hin- und herblättern, um die Seiten wieder zu suchen. Geduldig und schweigend schaue ich zu. Auch seinerseits geschieht das in völliger Stille und endet mit der wortlosen Übergabe des Reisepasses an mich sowie mit der unausgesprochenen Erlaubnis zu passieren. Ich frage mich immer, wie er mir dieses Einreisesignal gibt, denn weder winkt er mit der Hand, noch nickt er mit dem Kopf oder ähnliches. Vermutlich sind es Pheromone.
Doch dieses Mal geschieht etwas anderes. Es kommt zu einem überaschenden menschlichen Kontakt zwischen mir und dem Beamten. Wie gewohnt blättert er hin und her, findet endlich mein Visum, besieht es sich genau, stutzt, liest, liest noch einmal und fragt dann: „You are dependent? On whom?“ Dazu muss man wissen, dass ich nur deshalb ein kenianisches Dauervisum bekommen habe, weil ich Partner meiner in Kenia arbeitenden Frau bin. Menschen wie ich, eben Firstladies, erhalten deshalb ein sogenanntes „Dependent Visum“, also ein „Abhängiges Visum“. Weil sie abhängig sind. Von ihrer Frau. Deshalb antworte ich völlig korrekt: „Von meiner Frau.“
Für einen traditionellen Kenianer ist die Vielehe immer noch erstrebenswert und steht im Rang sicherlich noch weit über dem Besitz einer Mercedes E-Klasse oder eines der absurd riesigen Toyota Geländewagen, die hier die Straßen verstopfen. Offenbar gehört der Einreisebeamte zu dieser Gruppe und kann es deshalb nicht fassen, dass ein Mann abhängig von einer Frau sein könnte. Denn wie sollte sich jemand so mehrere Frauen leisten können, wenn er offenbar noch nicht einmal für die erste genügend Geld hat?
Die Schlange hinter mir wartet, es ist keine Zeit für eingehende kulturelle Erörterungen. Er reicht mir meinen Reisepass über den Tresen, schaut mich dabei lange an. Es ist, als wolle er mir gleichermaßen Mitleid für meine Situation spenden wie auch seiner Traurigkeit angesichts meines Verrates an der männlichen Sache Ausdruck verleihen. Dann wendet er den Blick ab und sagt: „Welcome to Kenya.“