Rabauken, Trompeten, und dann war da noch etwas

Dass Eltern mit ihren Kindern gerne kunstsinnige und unterhaltsame Veranstaltungen aufsuchen, ist von vielerlei Motivationen getrieben. Erstens fürchten sie die Langeweile (natürlich nicht ihre eigene, die dank Nachwuchs ohnehin nicht existiert). Zweitens hoffen sie immer das Beste und vor allem, dass ihre Kinder nicht zu smartphone-süchtigen iZombies heranfaulen, die Sonne und Luft nur noch aus der „Bibi-und-Tina“-App kennen. Drittens bieten besonders klassische Live-Konzerte immer die Chance auf ein schönes, gemeinsames Erlebnis in entspannter Atmosphäre.

Vermutlich deshalb ist die Frankfurter Kinderkonzertreihe „Rabauken und Trompeten“ seit Jahren rasend beliebt und immer sofort ausverkauft. Nur dem Einsatz meiner Freundin K. haben wir es zu verdanken, dass wir dieses Jahr dabei sein durften. Gleich morgens, am ersten Tag des Kartenvorverkaufs im Oktober 2018, hatte sie sich in eine telefonische Warteschleife gestürzt und nach 45 Minuten die letzten Karten bekommen. So beliebt sind diese Konzerte.

Vergangenen Sonntag war es endlich soweit. Ich war wieder einmal diensthabende First Lady. Mama war malade und konnte nicht mit, so ging das überzählige Ticket an eine spontan rekrutierte Freundin von Bb. „Wir gehen in die Alte Opa“, sangen beide während der Fahrt und kasperten sich vom Parkplatz im Westend über den wasserlosen Brunnen auf dem Opernplatz bis ins Albert Mangelsdorff Foyer.

Dort betrat ein männliches Streicherquartett nebst weiblicher Moderatorin die Bühne, und als es still geworden war, bat die Künstlerin darum, doch bitte auf das Filmen und Fotografieren zu verzichten. Der Saal war voll besetzt. Vorne hockten 100 Kinder auf dem Boden. Hinten saßen ebenso viele Mamas und Papas auf Stühlen und hielten sich an das freundliche Gebot.

Nur einer nicht. Der Mann direkt neben mir.

Wir saßen in der letzten Reihe, und obwohl es mich auch störte, dass er unbedingt filmen musste, ließ es ich gut sein. Wer wollte sich denn schon wieder aufregen. Sieben Sitze weiter rechts und eine Reihe nach vorne war ein Vater nicht so genügsam. Nach einer Weile drehte er sich um, und sagte, das möge doch bitte aufhören: Er wolle nicht, dass sein Kind gefilmt werde.

Guter Punkt, dachte ich, da auch ich nicht wollte, dass Bb und ihre Freundin in irgendeinem Facebook-Kanal auftauchen würden. Leider sah der Typ neben mir das ganz anders. Erst muckte er und begehrte auf, dann brüllte er: „Alle sind nur von hinten zu sehen – asoziales Arschloch.“

So.

Jetzt wollen wir mal zusammenfassen und nachrechnen:

Wir haben einen bezaubernd schönen Frühlingstag.

+ Alte Oper in Frankfurt.

+ 100 frohe Kinder zwischen 3 und 6 Jahren.

+ Noch einmal so viele Mütter und Väter.

+ Phantastisches Streicherquartett und heitere Moderatorin.

+ Schöne Musik aus mehreren Jahrhunderten.

+ Harmlose Singspiele zum Mitmachen für alle.

+ Hinweis am Anfang, bitte aufs Filmen zu verzichten.

+ Sachliche Bitte zwischendrin, mit dem Filmen aufzuhören.
_________________________________________________________________

= Asoziales Arschloch

???

In welchem Universum führen solche Voraussetzungen zu diesem Ergebnis?

Welche unterkomplexe Gefühlsmathematik bringt einen erwachsenen Mann dazu, während eines Konzerts in einer hundertprozentig friedlichen und gut gelaunten Wohlstandsumgebung vor 200 Personen so auf eine kleine und absolut berechtigte Kritik zu reagieren?

Ich habe keine Ahnung.

Muss man sich angesichts solcher sozialer Geisterfahrer noch über den Zustand der Welt wundern?

Vermutlich nicht.

Mein erster Impuls war, ihn an der Nase aus dem Saal zu schleifen. Aber dann wäre die Veranstaltung erst recht geplatzt. Deshalb habe ich mich darauf beschränkt, tief durchzuatmen, etwa 297 Mal, give or take, und versucht, den Rest des Konzertes zu genießen.

Echt heldenhaft, ich weiß. Bin halt doch nur ein Schreiberling.

Am Ende blieb alles ruhig. Er filmte auch nicht mehr. Die Kinder hatten ihren Spaß. Und das war ja schließlich die Hauptsache.

Das Rätsel der verschwundenen Babysitter

Mr Sherlock Holmes
221B Baker Street
London

Verehrter Mr Holmes,

durch die Berichte Ihres Freundes und Kollegen Dr. Watson ist Ihr Verlangen nach intellektuellen Herausforderungen allgemein bekannt. Bisher war ich nur ein still genießender Konsument Ihrer Fälle, bot doch mein Leben keinerlei erwähnenswerte Mysterien. Nun aber hat sich innerhalb kürzester Zeit eine Reihe seltsamer Vorfälle zugetragen, die ich Ihnen gerne schildern möchte und hoffe dabei auf Ihr Interesse und ihre Hilfe bei der Lösung des Rätsels.

Was mir seit einigen Tagen keine Ruhe mehr lässt, begann mit einem der größten verbliebenen Abenteuer der Menschheit: der Suche nach einem Babysitter. Selbst bekanntlich kinderlos, wird es Sie gewiss überraschen, dass diese banal klingende Aufgabe den modernen Menschen vor eine geradezu existenzielle Herausforderung stellt.

Wir, das heißt meine Frau und ich, wünschten uns nicht mehr, aber gewiss auch nicht weniger, als eine vertrauenswürdige, freundliche Person, die sich an ein paar Nachmittagen in der Woche um unsere Tochter kümmern sollte. Ich hatte mit einigen wenigen Telefonaten im Bekanntenkreis gerechnet, gefolgt von den Bewerbungen enkelerfahrener Erziehungsveteranen oder wenigstens snapchattender Teenies. Als jedoch bald alle Freunde vergeblich befragt und alle gut gemeinten Empfehlungen sich in Nichts aufgelöst hatten, griff ich in meiner Not zur guten alten Kleinanzeige, derer auch Sie, Mr Holmes, sich einst gerne bedient haben.

Anders als zur Zeit Ihrer Erschaffung, wenn ich so sagen darf, werden Anzeigen heute online aufgegeben, ebendort auch gelesen und beantwortet. Dies ist ein Umstand, der mir im Zusammenhang mit meinem Fall erwähnenswert erscheint. Die Konversationen, die sich mithilfe dieser „Online“-Medien entspinnen, folgen – Sie werden es gleich sehen – ganz eigenen Regeln, die wenig mit jener gepflegten Kommunikation zu tun hat, derer Sie sich zu Ihrer Zeit befleißigten.

Ich annoncierte also unseren Wunsch, baldmöglichst Unterstützung bei der Betreuung unserer Tochter zu erhalten und wartete gespannt. Bald erreichten mich Antworten auf meine Anzeige, und die schiere Zahl bestärkten mich in der Überzeugung, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Was jedoch so vielversprechend begann, war, wie Sie gleich bemerken werden, nichts mehr als ein trügerisches Strohfeuer. Denn Inhalt und Stil der Nachrichten, die ich erhielt, verwandelten meinen frisch gewonnen Mut schnell wieder in dumpfe Hoffnungslosigkeit.

Was, Mr Holmes, sollte ich von jener Person halten, die sich mit den dürren Worten „Ich hätte Lust, LG“ bei mir bewarb, wobei, wenn Sie mir die kurze Erläuterung gestatten, die beiden Großbuchstaben am Ende nicht etwa für einen koreanischen Elektronikkonzern stehen, sondern für “Liebe Grüße”? Es schien sich um eine Person zu handeln, die selbst bei der Anbahnung einer Arbeitsbeziehung, die auf tiefstem Vertrauen gegründet sein sollte, nicht Willens oder in der Lage war, sich mit einigen Worten vorzustellen, einen Namen zu nennen oder wenigstens einen Gruß zu formulieren, der aus ganzen Silben bestand? Nicht einmal eine aus Hartplastik modellierte Zimmerpflanze würde ich in solcher Hände Obhut geben, geschweige denn mein Kind!

Es war aber nicht die nachlässige Ausdrucksweise, die mich dazu bewog, mich heute an Sie zu wenden, Mr Holmes, sondern das wiederholt abrupte Ende meiner Unterhaltungen mit einigen der Bewerberinnen. Mehrere hattten zunächst nachdrücklich ihr Interesse bekundet und waren dann – plötzlich und für immer – verstummt, ohne dass ich einen Grund dafür hätte erkennen können. Damit Sie sich selbst ein Bild machen können, möchte ich Ihnen eine kurze Mail-Konversation ungekürzt als Basis für Ihre Nachforschungen zur Verfügung stellen. Sie hat sich – bei meiner Ehre! – Wort für Wort so zugetragen.

Die Babysitterin, 19.02 Uhr
Einen wunderschönen guten Abend,
ist die Betreuung denn schon vergeben oder suchen Sie noch jemanden?
Liebe Grüsse XX

Ich, 20.10 Uhr
Einen wunderschönen Abend zurück, Frau XX,
nein, die Betreuung ist noch zu haben. An welchen Tagen könnten Sie
denn? Wohnen Sie in Kronberg oder in der Nähe?
Viele Grüße
Michael Hasenpusch

Die Babysitterin, 20.17 Uhr
Wir wohnen in Oberursel, ich bin selbst Mami (…). Ich bin zeitlich relativ flexibel, da ich meinen Mann und die Oma an meiner Seite habe:)
Für mich wäre nur wichtig, wie viele Tage es in der Woche wären, da in der Anzeige steht, dass es auch gerne mehr wären.
LG

Ich, 20:19 Uhr
Zunächst einmal wären zwei Tage wichtig, da wir, meine Frau und ich, an
zwei Nachmittagen das bisher auch selbst übernommen haben und den
Freitag schon eine Freundin übernimmt. Am besten wäre es für uns,
jemanden für Montag und Mittwoch zu engagieren. Wie siehst es da bei
Ihnen aus?

Die Babysitterin, 20.22 Uhr
Das würde passen, wie wäre denn die Bezahlung, da mein Sohn unbedingt auf etwas einspart, daher muss Mama noch mehr arbeiten:)

Ich, 20.24 Uhr
Lassen Sie uns das am besten am Telefon besprechen. Könnten wir morgen
telefonieren? Wann würde es Ihnen passen?

Die Babysitterin, 20.25 Uhr
Ich bin auch jetzt erreichbar, wenn es ihnen passt.

Ich, 20.26 Uhr:
Warum nicht, schicken Sie mir Ihre Nummer, dann rufe ich an…

Ich wartete.

Wartete noch etwas länger

Der Äther blieb stumm.

Am folgenden Tag schrieb ich ihr noch einmal.

Hallo Frau XX,
haben Sie noch Interesse? Dann würde ich gerne telefonieren, bräuchte allerdings Ihre Nummer. Alternativ können Sie mich natürlich auch anrufen: 0XX-XXXXXXX.
Viele Grüße
Michael Hasenpusch

Doch Frau XX meldete sich jedoch nicht mehr.

Nun frage ich Sie, Mr Holmes, was kann in den wenigen Minuten einer bis dahin recht solide klingenden Konversation geschehen, das eine Bewerberin auf gar nicht mal schlecht bezahlte Stelle unvermittelt verstummen lässt? So sehr ich meine Gedanken auch drehe und wende, es will mir kein plausibler Grund dafür einfallen.

Daher kann ich nicht anders, als Ihrem unsterblichen Aphorismus zu folgen – „When you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth” – und anzunehmen, dass der Grund für das Verstummen dieser und anderer Aspirantinnen auf die Babysitterstelle nur in deren – selbstverständlich unfreiwilligen – Verschwinden liegen kann.

Was geschieht mit diesen Menschen? Wohin verschwinden sie? Und wem nützt denn das? Nun, Mr Holmes, am Ende meines Briefes, komme ich zu meinem ungeheurlichen Verdacht, den Sie sicherlich schon längst erwogen haben: Steckt hinter den feigen Taten möglicherweise Ihr Erzfeind, dessen Namen ich kaum auszusprechen wagen, der infame Professor Moriarty? Führt jener, den Sie den Napoleon des Verbrechens nannten, vielleicht einen solch promisken Lebensstil, dass er für seine vielköpfige, illegitime Nachkommenschaft ganzer Heerscharen von Babysittern bedarf und sie zu diesem Behufe entführt?

Fragen über Fragen, Mr Holmes, und ein Verdacht, der, wie ich hoffe, Ihr Interesse geweckt hat. Babysitter sind so dringend benötigt wie rar gesät. Deshalb schließe ich meinen Brief mit einem dringenden, ja, verzweifelten Appell: Legen Sie die Geige nieder, die Spritze zurück in die Schublade Ihres Schreibtisches. Helfen Sie mir und allen Eltern, die sich in einer ähnlichen Situation befinden! Nicht nur sie, nein, auch die Kinder werden es Ihnen danken.

In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich herzlichst

Ihr

Michael Hasenpusch

Eindeutschung mit Hindernissen

Auf der Suche nach einem gebrauchten Kindersitz fürs Auto durchqueren Bb und ich bei schönem Wetter den Taunus. Sanfte Hügel, flach eingrätschende Spätwintersonne, grün-gräuliches Gras und stille, kahle Bäume. Halb nach hinten gewendet sage ich, „Bb schau‘ mal, ist das nicht schön?!“ Ganz entspannt dreht sie den Kopf vom Fenster zu mir und erwidert, wobei sie die unpräzise Alltagssprache ihrer Eltern eins zu eins anwendet: „Da war mer schon.“

Soso. War mer schon? Bei einem deutschen Adoptivkind hätte ich das ja noch angehen lassen. Da hätte die Möglichkeit bestanden. Theoretisch. Vielleicht. Irgendwie. Doch bei Bb? Aus Kenia? 8000 Kilometer Richtung Südsüdost. Keine Chance. Höchstens per Seelenwanderung.

Apropos Wanderung, und im speziellen: Einwanderung. Neuzugezogene müssen sich hierzulande ja anmelden. So fielen wir vor ein paar Tagen zu dritt im Meldeamt unserer nunmehr kleinen hessischen Stadt ein. Der Sachbearbeiter klickte eine Weile ratlos in seiner Datenbank umher. Dann holte er sich bei einem Kollegen Rat.

Die beiden führten ein technisch klingendes Fachgespräch. Obwohl wir sehr gut sichtbar auf der anderen Seite des Schreitisches saßen, traten wir darin weniger als Menschen denn als Datenklötzchen auf, die irgendwie in das System hinein bugsiert werden mussten.

Es entspann sich in etwa der folgende Dialog.

Sachbearbeiter A: „Wie machen wir das denn jetzt? Das Kind gibt es ja noch gar nicht. Und verheiratet sind die ja auch nicht.“

E. versuchte über die Tischplatte hinweg einzuwerfen, dass wir sehr wohl verheiratet wären, und das schon seit Jahren. Doch A. winkte ab: „Das kann schon sein, aber hier drin sind Sie’s nicht.“

Zu seiner bzw. zur Entschuldigung des Systems muss ich hinzufügen, dass E. uns vorausgereist war und sich schon ein paar Wochen zuvor in der kleinen Stadt angemeldet hatte.

Offenbar als Single.

„Hm…?“, dachte ich.

Sachbearbeiter B unterbrach meine Gedanken: „Na, dann ist die Sache ja klar“. Er klickte. „Erst müssen die beiden heiraten“. Dann klickte er hierhin, dahin und schließlich irgendwo dorthin. Ich stelle wieder einmal fest, wie seltsam es sich anfühlt, wenn in meinem Leben herumgeklickt wird.

Sachbearbeiter A: „Aha, aahaaa. Ich sehe schon. Jetzt wird das was. Jetzt müssen wir nur noch ihn zuziehen lassen. Dabei deutet er eher unbewusst auf mich. Er klickte hierhin, dahin und dorthin. „So, jetzt ist er also auch da.“

Zufrieden blickte er auf sein Werk. Dann auf uns. Er sah die ungeduldig zappelnde Bb auf meinem Schoß.

„Ach herrje, da ist ja auch noch das Kind! … Was machen wir denn da? … Das Kind gibt es ja gar nicht.“

Hier war mer also noch nicht gewesen.

Damit meinte der Sachbearbeiter vermutlich, dass Bb, die nun einmal in Kenia geboren worden war, noch nicht existiere, jedenfalls nicht als deutscher Datensatz. Denn sie existierte zurzeit sogar sehr akut und nahm aus Langeweile den kleinen Tisch auseinander, auf dem die Broschüren lagen. Gelegen hatten. Jetzt lagen sie darunter.

Sachbearbeiter B. sah die Sache wieder ganz pragmatisch: „Ist doch klar. Wir müssen das Kind erst einmal gebären, also, äh, auf die Welt kommen lassen.“

Das schien mir jetzt aber eine große Sache. Eigentlich sogar eine gewaltige Sache. Nicht so fürs Einwohnermeldeamt. Denn der Sachbearbeiter klickte hierhin, dahin und dann dorthin, und schon war Bb geboren. Sie existierte. Ich war fast so gerührt, wie am ersten Tag.

Die beiden Sachbearbeiter sahen sich auf der Zielgeraden: „Also, jetzt noch das Kind zuziehen lassen“, sagte B.

A fixierte uns: „Aber wer sagt uns denn, dass das ihr Kind ist?“

E. legte ihren eigenen Pass und Bbs Kinderreisepass auf den Tisch und sagte: „Sehen Sie, die Kleine trägt meinen Namen.“

Doch jetzt kannte der Scharfsinn des Sachbearbeiters keine Grenzen: „Und wenn sie nun die Schwester sind?“

Wir mussten an einem anderen Tag noch einmal vorsprechen, und dem Mann das Gerichtsurteil vorlegen, das beweist, dass wir die Eltern und Bb unser Kind ist.

Danach waren wir auch im Sinne der Einwohnermeldedatenbank endlich wieder eine Familie.