Moskau im Winter ist schön. Die Kälte verlangsamt die Schritte, der Schnee dämpft den Lärm der Großstadt. Jedenfalls solange ich vom Kreml in Richtung Hotel Ukraine laufe. Es ist 17.30, die Rushhour ist in vollem Gang. Auf der anderen Seite der langen Brücke über die Moskwa ist lautes Hupen zu hören. Beim Überqueren des Flusses habe ich Muße, mir ein paar Erklärungen dafür zurechtzulegen. Am Ende sind sie alle falsch.
Vier Spuren führen in die Stadt, und vier aus ihr hinaus. Kurz vor der Brücke stehen die Autos in dichten Reihen. Auch auf dem vierspurigen Zubringer, der sich vom Fluss zu Brücke emporkurvt, bewegt sich nichts. Aber alle Hupen. Warum?
These 1: Die, die unten bzw. hinten stehen, und überhaupt nichts sehen können, sind kraft ihres Willens und ihrer Einbildung fest davon überzeugt, dass es vorne schon längst weitergehen müsste. Dieser Überzeugung verleihen sie mit ausdauerndem Hupen Ausdruck.
These 2: Die etwas weiter vorne Stehenden sehen nicht, dass ein Polizist den Verkehr reguliert. Das sehen nur die, die ganz vorne stehen. Also glauben die dahinter, dass die Bahn frei ist, und versuchen dies den vor ihnen stehenden, vermeintlichen Schlafmützen mitzuteilen.
These 3: Die ganz vorne Stehenden sehen, dass ein Polizist den Verkehr reguliert. Da sie gleichzeitig auch sehen, dass die Straße eigentlich frei ist, geben sie ihm per Hupkonzert zu verstehen, wie sehr sie es begrüßen würden, wenn er sie nun endlich weiterfahren ließe.
Als ich bei Markus zuhause angekommen bin, erzähle ich ihm alle meine drei sorgsam in der Kälte zusammengezimmerten Thesen. Alle falsch. Er klärt mich auf. Die Straße führt vom Kreml, dem Regierungssitz, geradeaus ins Milliardärs- und Millionärswohnviertel, nennen wir es Oligarchhausen.
Auch die beiden Regierungschefs wohnen dort, der offizielle, Medwedew, und der echte, Putin. Beide fahren je einmal am Tag von Oligarchhausen zum Kreml und wieder zurück. Immer wenn sie das tun, sperrt die Polizei die Straße komplett ab.
Dies geschieht meist mitten in der Rushhour, die in Moskau beträchtlich ist. Also steht die halbe Stadt still, weil der Präsident es will. Seit einem halben Jahr finden die Moskauer das blöd – und hupen. Der Stau als politisches Statement. Dabei wird diese Demonstration sogar von denen organisiert, gegen die sie sich richtet.
Ein Gegenmittel wäre, sich wie jeder andere in den Verkehr einzureihen. Oder einen Helikopter zu nehmen. Aber dann würde ja niemand sehen, wie eine Stadt innehält, weil ein Politiker vorbeifährt. Manchmal macht Macht Mühe. Moskau wird wohl noch eine Weile hupen müssen.