Sternzeit 14.4.2016.9.38. Ich sitze am Schreibtisch. Schaue leider kurz aus dem Fenster. Werde abgelenkt. Im Garten gegenüber bewegt sich etwas. Scheint über den Boden zu kriechen. Büsche verdecken die Sicht. Jetzt kriecht es ins Freie. Es ist ein Mähroboter. Er fährt geradeaus, stößt auf ein Hindernis, dreht sich, fährt gerade aus, stößt auf ein neues Hindernis, dreht sich und so weiter. Mäht er wirklich nur? Oder schreibt er eine unsichtbare Botschaft in den Rasen, die nur von einem Raumschiff aus zu sehen wäre? So etwas wie: „Als ich ein kleiner Roboter war, da träumte ich davon, R2D2 zu sein und mit Luke Skywalker die Galaxie zu retten. Und jetzt? Jetzt mähe ich Rasen, dieselben 100 Quadratmeter, wieder und wieder.“ Da fällt mir auf, dass ich zwar seit drei Wochen hier wohne, und obwohl ich immer, wenn ich am Schreibtisch sitze, Blick auf den Garten der Nachbarn habe, war dort nie ein Mensch zu sehen. Er sieht sehr aber gepflegt aus. Wohnen da überhaupt Leute? Oder ist das Grundstück in der Hand von Robotern? Vielleicht sind die Nachbarn gar nicht mehr hier und haben nur vergessen, den Roboter mitzunehmen. So wird er mähen und mähen und seine Zeichen in den Rasen schreiben, solange seine Batterie hält. Ich sollte hinübergehen und ihn befreien. Ihn nehmen, nach Kenia zurückfliegen, in die Masai Mara fahren, ihn auf den weiten Rasen setzen und flüstern: “Fahr‘ kleiner Roboter, mäh’ bis an den Horizont und noch weiter.“
Wo ist eigentlich unser Sofa?
So oder so ähnlich lautet E.s erste Frage, wenn sie nach einem langen Bürotag nachhause kommt. Ich habe dann schon eine Webseite namens “Vesselfinder” angeworfen und nachgeschaut. All unsere Sachen stecken in einem Container. Der Container steht mit vielen anderen auf einem Schiff (das übrigens unter Panamesischer Flagge segelt. Wir können aber nichts dafür. Ehrlich). Das Schiff legte Ende März im kenianischen Hafen Mombasa ab – und fuhr erst einmal nach Süden, nach Daressalam in Tansania. Vorige Woche zuckelte es mit etwa 14 Knoten im Roten Meer nach Norden in Richtung Suezkanal. Das war zumindest die richtige Richtung. Heute hat es wieder umgedreht und fährt zurück nach Aden in Jemen. Ist der Kapitän betrunken? Wurde das Schiff gekapert? Ist es in Wahrheit eine Straßenbahn? Unser Transportunternehmen hat die Ankunft des Sofas (und des ganzen Rests) für Mitte Mai avisiert. Wenn wir das mal glauben sollen. Bis dahin: Hallo Gartenstuhl!
Hartmut und ich
Schon einmal hatte ich hier in diesem Blog bemängelt, oder sagen wir es neutraler: festgestellt, dass trotz aller Bemühungen von Suffragetten, Emanzen und sonstigen Frauenrechtlerinnen, alles beim Alten zu sein scheint.
Noch immer bin ich der einzige Mann, der seinem Kind länger als ein paar Minuten bei Spielgruppe, Gartenparty oder beim ausgelassenem Herumrasen das Händchen hält. Ich hatte dabei den Beweis angetreten, dass es, zunmindest in Kenia, nicht weit her war mit der Rollengleichheit: Wie gehabt, drücken die Herren ihre Bäuche hinter die Schreibtischplatte, die Damen ihre hinter den Bügel des Kinderwagens.
Nun weiß ich – und Hartmut, der in Stein gehauene Ritter meiner kleinen hessischen Heimatstadt soll mein Zeuge sein – dass es hier in Deutschland auch nicht anders ist.
Zu Füßen des Geharnischten befindet sich ein Springbrunnen. In ihm und um ihn herum tollen die lieben Kleinen. Auf den Bänken sitzen und an den Kinderwagen lehnen die Erziehungsberechtigten. Sie plaudern miteinander, tatschen auf ihren Smartphones herum oder schauen gleichmütig den Spielen ihrer Kinder zu. Heute waren es elf, mich inklusive, und es waren, von mir abgesehen, alles Frauen.
Ach, Hartmut. Wie war das denn bei Dir im 16. Jahrhundert? Als Raubritter trugst Du Helm und Schwert und drücktest Deinen vermutlich straffen Bauch hinter die Zügel Deines Schlachtrosses. Wohin schaut Dein Standbild eigentlich so kernig? Sind es Feinde, die Deine Burg belagern wollen? Der kaiserliche Fiskalbeamte, dem Du noch die Einkommensteuererklärung von 1527-31 schuldest?
Wahrscheinlich sind es Deine Kinder, die aus der Knappen-Kita nachhause kommen. Gleich wirst Du ihnen mit dem Schwert einen Apfel kleinschnippeln. Beim Windelnwechseln klappst Du mannhaft Dein Visier herunter. Währendessen perforiert Deine Frau durchs Küchenfenster mit der Arkebuse den wartenden Finanzbeamten. Ja, so warn’s, die alten Rittersleut.
Eindeutschung mit Hindernissen
Auf der Suche nach einem gebrauchten Kindersitz fürs Auto durchqueren Bb und ich bei schönem Wetter den Taunus. Sanfte Hügel, flach eingrätschende Spätwintersonne, grün-gräuliches Gras und stille, kahle Bäume. Halb nach hinten gewendet sage ich, „Bb schau‘ mal, ist das nicht schön?!“ Ganz entspannt dreht sie den Kopf vom Fenster zu mir und erwidert, wobei sie die unpräzise Alltagssprache ihrer Eltern eins zu eins anwendet: „Da war mer schon.“
Soso. War mer schon? Bei einem deutschen Adoptivkind hätte ich das ja noch angehen lassen. Da hätte die Möglichkeit bestanden. Theoretisch. Vielleicht. Irgendwie. Doch bei Bb? Aus Kenia? 8000 Kilometer Richtung Südsüdost. Keine Chance. Höchstens per Seelenwanderung.
Apropos Wanderung, und im speziellen: Einwanderung. Neuzugezogene müssen sich hierzulande ja anmelden. So fielen wir vor ein paar Tagen zu dritt im Meldeamt unserer nunmehr kleinen hessischen Stadt ein. Der Sachbearbeiter klickte eine Weile ratlos in seiner Datenbank umher. Dann holte er sich bei einem Kollegen Rat.
Die beiden führten ein technisch klingendes Fachgespräch. Obwohl wir sehr gut sichtbar auf der anderen Seite des Schreitisches saßen, traten wir darin weniger als Menschen denn als Datenklötzchen auf, die irgendwie in das System hinein bugsiert werden mussten.
Es entspann sich in etwa der folgende Dialog.
Sachbearbeiter A: „Wie machen wir das denn jetzt? Das Kind gibt es ja noch gar nicht. Und verheiratet sind die ja auch nicht.“
E. versuchte über die Tischplatte hinweg einzuwerfen, dass wir sehr wohl verheiratet wären, und das schon seit Jahren. Doch A. winkte ab: „Das kann schon sein, aber hier drin sind Sie’s nicht.“
Zu seiner bzw. zur Entschuldigung des Systems muss ich hinzufügen, dass E. uns vorausgereist war und sich schon ein paar Wochen zuvor in der kleinen Stadt angemeldet hatte.
Offenbar als Single.
„Hm…?“, dachte ich.
Sachbearbeiter B unterbrach meine Gedanken: „Na, dann ist die Sache ja klar“. Er klickte. „Erst müssen die beiden heiraten“. Dann klickte er hierhin, dahin und schließlich irgendwo dorthin. Ich stelle wieder einmal fest, wie seltsam es sich anfühlt, wenn in meinem Leben herumgeklickt wird.
Sachbearbeiter A: „Aha, aahaaa. Ich sehe schon. Jetzt wird das was. Jetzt müssen wir nur noch ihn zuziehen lassen. Dabei deutet er eher unbewusst auf mich. Er klickte hierhin, dahin und dorthin. „So, jetzt ist er also auch da.“
Zufrieden blickte er auf sein Werk. Dann auf uns. Er sah die ungeduldig zappelnde Bb auf meinem Schoß.
„Ach herrje, da ist ja auch noch das Kind! … Was machen wir denn da? … Das Kind gibt es ja gar nicht.“
Hier war mer also noch nicht gewesen.
Damit meinte der Sachbearbeiter vermutlich, dass Bb, die nun einmal in Kenia geboren worden war, noch nicht existiere, jedenfalls nicht als deutscher Datensatz. Denn sie existierte zurzeit sogar sehr akut und nahm aus Langeweile den kleinen Tisch auseinander, auf dem die Broschüren lagen. Gelegen hatten. Jetzt lagen sie darunter.
Sachbearbeiter B. sah die Sache wieder ganz pragmatisch: „Ist doch klar. Wir müssen das Kind erst einmal gebären, also, äh, auf die Welt kommen lassen.“
Das schien mir jetzt aber eine große Sache. Eigentlich sogar eine gewaltige Sache. Nicht so fürs Einwohnermeldeamt. Denn der Sachbearbeiter klickte hierhin, dahin und dann dorthin, und schon war Bb geboren. Sie existierte. Ich war fast so gerührt, wie am ersten Tag.
Die beiden Sachbearbeiter sahen sich auf der Zielgeraden: „Also, jetzt noch das Kind zuziehen lassen“, sagte B.
A fixierte uns: „Aber wer sagt uns denn, dass das ihr Kind ist?“
E. legte ihren eigenen Pass und Bbs Kinderreisepass auf den Tisch und sagte: „Sehen Sie, die Kleine trägt meinen Namen.“
Doch jetzt kannte der Scharfsinn des Sachbearbeiters keine Grenzen: „Und wenn sie nun die Schwester sind?“
Wir mussten an einem anderen Tag noch einmal vorsprechen, und dem Mann das Gerichtsurteil vorlegen, das beweist, dass wir die Eltern und Bb unser Kind ist.
Danach waren wir auch im Sinne der Einwohnermeldedatenbank endlich wieder eine Familie.
Ganz großes Tennis
Flughafen Nairobi, Business Lounge. Ein Horrorjahr geht zu Ende. B. und Babaa dürfen endlich nach Hause. Nach Deutschland. Ich habe darüber nie etwas geschrieben. Eine Adoption ist ein rechtlicher Akt. Wollte über ein laufendes Verfahren nicht berichten. Besonders, da in Kenia Recht nicht dasselbe ist wie in Deutschland. Deshalb haben wir uns bedeckt gehalten. Nun, nach unzähligen bürokratischen Hürden, nach Rechtsauslegung nach Gutdünken, nach geradezu politischer Verfolgung ausländischer Adoptiveltern und ihrer Kinder haben Babaa und B. soeben die kenianischen Ausreiseformalitäten passiert. Sind überglücklich. Baba jedenfalls, der ein Tusker-Bier nach dem anderen trinkt, weil den Stress, der abfällt wie die Blätter im Herbst, sonst gar nicht mehr aushält. B. versteht von alldem nichts und mampft friedlich die Schokoladenseite eines Kinderüberraschungs-Eis, das als Spiel eine Art Kegelbahn enthält. Nimmt die Papp-Kegel, hält sie hoch empor und ruft, zur Überraschung der anderen Insassen, laut in die gedämpfte Business-Atmosphäre hinein: TENNIS!!!
Juhu, mein Kind ist schlau!
Jeder freut sich, wenn das eigene Kind eine gewisse Intelligenz erkennen lässt. Oh, es kann eine quadratische Form in die dafür vorgesehene Vertiefung eines pädagogisch wertvollen Holzspielzeugs stecken und dazu noch „passt rein!“ rufen. Ah, es sagt auf die Frage, welche Farbe die Jackes des Mannes da auf der Straße hat, völlig korrekt: „rot“. Und es antwortet auf die Frage, wo Mama gerade ist (die sich auf einer Dienstreise befindet): „Mama Frankfurt. Bringt Schokolade mit.“
Soweit, so schön.
Seit heute morgen platze ich aber vor Stolz.
B. sitzt am Tischende und spielt mit Memory-Karten. Ich sitze ebenfalls am Tisch, zwischen ihr und dem Fenster, und lese auf dem Laptop Spiegel-Online.
Auf einmal ruft sie: „Affe“.
Ich erschrecke in bisschen, weil wir in unserem Haus tatsächlich hin und wieder Besuch eines aufsässigen Primaten hatten. Ich schaue zum Fenster und erwarte, das freche Tier fröhlich an den Gittern baumeln zu sehen. Ist aber kein Affe da.
Ich drehte mich zu B. und frage: „Wo denn?“
„Na, da“, sagt sie und deutet mit dem Finger geradeaus.
Am Fenster ist aber nichts. Dann wird mir klar, sie meint den Laptop. Ich gucke auf den Bildschirm, aber auch der scheint affenfrei.
Am unteren Rand sind zwei Prominente zu sehen, links der Fußballtrainer Jürgen Klopp, rechts der Unternehmer, Milliardär und Bewerber für die US-Präsidentschaftskandidatur Donald Trump.
„Affe“ wiederholt B. energisch und deutet wieder mit dem Finger.
Ein Verdacht keimt.
Ich zeige auf das Bild von Jürgen Klopp.
„Der da?“
„Nein, ist Mann“, widerspricht B. und deutet weiter mit dem Finger.
Mein Verdacht konkretisiert sich.
„Der da?“, frage ich und zeige auf das Bild von Donald Trump.
„Ja. Affe.“
„Schätzchen, Du bist die Beste!“
„Ja, Babaa“, sagt B. und spielt weiter Memory.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
PS: Hinweis an Herrn Trump: Selbstverständlich würde ich Sie selbst niemals mit einem Affen vergleichen. Das würde weder Ihnen noch dem Affen gerecht werden und wäre in jeder Hinsicht unhöflich. Abgesehen davon hat das – wie ich gerade sehe – schon jemand anders getan: TV-Moderator bezeichnet Donald Trump als Orang-Utan.
So toll ist das Erwachsen werden
Alle sind meine Feinde. Sogar Babaa hat sich gegen mich gewendet. Nachdem er mich vom Kindergarten abgeholt hatte, bogen wir an der Kreuzung anders ab als sonst. Da habe ich gefragt „anders fahrn?“ Und Babaa hat nur gemurmelt, „ja, heute fahren wir woanders hin“.
Er hatte mir wie üblich einen kleinen Apfelsaft für die Fahrt mitgebracht, hat ihn mir geradezu aufgedrängt. Da hätte ich misstrauisch werden müssen. Aber für echtes Misstrauen bin ich wohl einfach noch zu klein. Wird Zeit, dass ich erwachsen werde.
Der Apfelsaft hat gut geschmeckt. Wir fuhren und fuhren, und irgendwann kam mir eine Straße bekannt vor. Das war die, die entweder zu meinem Freund Georgieboy führt, oder zum Doktor. Von Georgieboy hatte Babaa nichts gesagt. Ich ahnte Schlimmes und sagte vorsichtshalber, „kein Doktor?!“ Da rückte Babaa endlich mit der Wahrheit heraus und sagte, „nur ein kleines bisschen.”
Wir parkten und stiegen aus dem Auto. Auf dem Weg in die Praxis legte mich Babaa noch einmal rein und ließ mich die Knöpfe am Fahrstuhl drücken. Als wir im ersten Stock ankamen, war es natürlich zu spät. Ich lief zwar so langsam ich konnte, aber Babaa nahm mich einfach auf die Schultern. Der kennt wirklich alle Tricks. Klar machte das Spaß, und ehe ich mich’s versah, waren wir auch schon beim Doktor durch die Türe.
Da kam schon diese Arzthelferin vorbei, die mir letztes Mal die Spritzen in die Oberschenkel gegeben hat. Miststück. Eine links, eine rechts, und das obwohl ich doch ausdrücklich gesagt hatte, „kein Aua, kein Aua.“ Die soll mir mal im Dunkeln begegnen.
Erst musste ich dort warten, wo das Spielzeug liegt und der Fernseher an der Decke hängt. Immerhin etwas. Dann sagte Babaa, ich sollte mal mitkommen. Mitkommen, na klar. Kenne ich ja von zuhause. Und bin gleich wieder drauf reingefallen. Ich bin ja so naiv.
Wir gingen in den Behandlungsraum. Kaum waren wir drin, kam die Arzthelferin rein. Als sie sich die Plastikhandschuhe anzog, wusste ich, was hier gespielt wird. Ich natürlich sofort zur Tür, aber Babaa hielt mich fest und faselte irgendetwas, das ist gut für Dich, sonst kriegst Du Masern, Windpocken, Mumps und solches Zeug.
Kenne ich nicht, brauche ich nicht, und ist mir egal. Diese Spritzen sind echt kein Spaß für so ein Baby wie mich. Dass Babaa sagt, das sei alles gar nicht so schlimm, ich sei ja schließlich schon groß und stark, kann er sich auch sparen. Abends geht das nämlich genau andersherum. Ich sei doch noch so klein und müsste jetzt schlafen gehen. Ganz, wie es ihm in den Kram passt, dem Herrn Babaa.
Ende vom Lied: zwei Spritzen habe ich abbekommen, eine links, eine rechts. Ich brüllte laut, die Schwester lachte sogar, die blöde Kuh, und Babaa sagt, „na, so schlimm war’s doch gar nicht, oder?“ Er hat zwar Recht, es tut schon gar nicht mehr weh, aber darum geht es hier nicht, sondern ums Prinzip.
Jedenfalls habe ich ihm dann knallhart Bescheid gesagt. Dass ich jetzt sofort hier raus will, und zwar vor den Fernseher, da bei den Spielsachen. Normalerweise ist er beim Fernsehen gucken ein bisschen geizig, aber jetzt war er weich wie Butter. Hat wohl ein schlechtes Gewissen. Den Trick muss ich mir merken.
Nach einer Weile ist es mir doch langweilig geworden. Ich war da ganz allein, keine anderen Kinder da. Na, kein Wunder, bei dem Service hier! Babaa hing am Tresen herum und schwatzte mit der Sprechstundenhilfe. Irgendetwas mit „neuer Termin“ habe ich verstanden, aber leider weiß ich nicht, was ein Termin ist.
Ich durfte wieder auf die Schultern, die Knöpfe am Fahrstuhl drücken, im Auto war noch ein Rest Apfelsaft, wir sangen „Von den blauen Bergen kommen wir…“ zusammen, und wenn es mir zu schnell ging, sagte ich „lamsam Babaa“, weil er immer so flott fährt.
Ist insgesamt kein schlechter Kerl, kann auch super Spaghetti mit Tomatensoße kochen. Nur bei der Sache mit dem Doktor, da werde ich in Zukunft besser aufpassen müssen. Ich glaube, das nennt man Misstrauen. Erwachsen werden – here I come. Keine Minute zu früh, ich bin ja schließlich bald drei.
Liebes Tagebuch
Von topfitten Kleinkindern am Morgen, mörderischen Speedbumps, schweigenden Beziehungsgesprächen und hartnäckigen Löchern im Dach.
Heute wieder um Viertel vor sechs geweckt worden. B. ruft aus dem Kinderzimmer „Papaaa!“. Wenn ich dann schlaftrunken irgendetwas Unartikuliertes antworte, setzt sie mit frischer, heller Stimme ein „Mitkommen“ hinzu. Damit meint sie, ich solle gefälligst antreten und sie aus dem Gitterbett in den neuen Tag heben. Und zwar gestern. Flott. Dalli. Pronto. Zackzack. Vor einigen Monaten hatte ich sie bei eben dieser Gelegenheit gefragt, ob sie mitkommen will. Da hat sie wohl Gefallen an der Formulierung gefunden.
Nachdem wir beim Töpfchen gehen, Zähneputzen, Schlafanzug aus und Klamotten an, beim Frühstück und beim Schuhe anziehen, bereits ausführlich Fangen und Verstecken gespielt haben, verlassen wir das Haus Richtung Kindergarten. Noch einmal Fangen und Verstecken rund ums Auto, dann sitzt sie endlich im Kindersitz. Als ich mich setze, beschlagen die Scheiben, mein Kreislauf ist auch ohne Frühsport auf Hochtouren.
***
Gegen 7.30 sollte die Welt auf unserer Straße in Ordnung sein. Wieder in Ordnung. War es fünf Jahre lang. Dann hat eine Abordnung kenianischer Schildbürger einen Speedbump installiert. Wie heißt das eigentlich auf Deutsch? Lexikon sagt „Rüttelschwelle“. Habe ich noch nie gehört. Ich übersetze mit „Mörderklippe“. Die Speedbumps in Kenia sind absurd. Viel zu steil, viel zu hoch. Immerhin demokratisch. Selbst der schnellste Frühstücksparlamentarier muss in seinem Riesengeländewagen davor ganz bescheiden abbremsen und mit dem Tempo eines grönländischen Gletschers drüber schleichen. Fahrer aus dem gemeinen Volk, mit Autos von geringer Bodenfreiheit, nehmen ihn diagonal, damit immer ein Rad auf höchsten Punkt des Bumps ist und so den Wagenboden in der Luft hält.
Seit der Speedbump da im Weg steht oder liegt, verbringe ich morgens 20 Minuten in einem Stau, den es vorher nicht gab. Gestern Nachmittag, auf der Rückfahrt vom Kindergarten, sehe ich kräftige Männer mit Spitzhacken auf den Bump einschlagen. Habe kurz vor Glück geweint. Nun ist aber doch wieder Riesenstau. 20 Minuten später die Erklärung dafür: Die Jungs mit der Hacke haben gestern nur die Hälfte geschafft. Jetzt ist alles noch schlimmer, weil sie auf der nun Bump-losen Seite auch den Asphalt weggehackt und ein großes Schlammloch hinterlassen haben. George W. Bush erscheint, stellt sich in einer Bomberjacke auf den Rest-Bump wie auf einen Feldherrnhügel und sagt bitter: „Mission not accomplished.“
***
Nach dem Drive-by-Dropping im Kindergarten besuche ich das Café Berlin. Es heißt eigentlich anders, aber Freunde haben es so getauft, weil es auch in Berlin stehen könnte. Drei aus hellem Holz handgezimmerte Tische auf der einen Seite, auf der anderen geweißelte Regale mit lokalem Kunsthandwerk, Menschen, die zwischen Latte Macchiato und Panini auf ihre Laptops einhacken, leiser Neo-Soul auf den Lautsprechern. Ich bin der erste Gast und warte, bis die Kaffeemaschine warm wird. Kurze Zeit später setzt sich ein Pärchen an den Tisch neben mir. Ich kann’s nicht fassen. Es ist Glatzenmann und Freundin.
Glatzenmann ist ein etwa 35-jähriger Engländer mit-ohne Haare, also einer derjenigen, die sich wegen Haarausfall den Kopf scheren. Rückgewinnung der Kontrolle über den eigenen Körper. Irgendwie auch biblisch. Wenn Deine Haare Dich betrügen, dann schneid‘ sie ab und wirf‘ sie weg. Ob die Frau wirklich seine Freundin ist – oder nicht mehr, oder noch nicht – das ist nicht sicher. Dazu gleich mehr. Sie ist gleichalt, hat einen Pagenschnitt, eine bunte Hornbrille und eine große Nase. Ich würde das alles nicht erwähnen – vor allem nicht die Nase, das ist ja nicht sehr charmant – wenn ich die beiden in der vergangenen Woche nicht in drei verschiedenen Cafés angetroffen hätte.
Meiner Ansicht nach führen die beiden ein Beziehungsgespräch, schweigend und außerdem seriell. Wie beim Film: Was man früher in 90 Minuten erzählen konnte, daraus macht man heute neun Staffeln mit 200 Folgen. Beim ersten Mal saßen sie sich gegenüber. Ihre Hand in seiner. Sein Kopf etwas nach unten gekippt. Von dort schaute er in ihre Augen. Tief und fest. Und sehr lange. Jedenfalls versuchte er es. Sie wusste nicht so genau, wohin sie schauen soll. Blickte abwechselnd an ihm vorbei, an die Decke, kurz in seine Augen, auf den Tisch, auf ihre Tasche auf dem Sitz neben ihr und wieder von vorne. Sie sagten nichts, mindestens 15 Minuten lang.
Wie die Situation für die beiden war? Keine Ahnung. Das Publikum versuchte gequält, woanders hin zu starren. Es half nichts. Ich fühlte mich wie Luke Skywalker in der Gegenwart von Darth Vader. Die Spannung britzelte an meinen Nackenhaaren. Zwei Tage später betrat ich ein anderes Café. Sofort spürte ich etwas, eine Präsenz. Da saßen die beiden. Als hätte jemand vorgestern eine Skulptur nach ihrem Bild geformt und hier aufgestellt. Ihre Hand in seiner. Penetranter Hundeblick, auf der einen, flackernder Blick auf der anderen Seite. Schweigen.
Und nun, zum dritten Mal, jetzt auch im Café Berlin. Man ist wirklich nirgends mehr sicher. Entweder diese Trennung zieht sich einfach etwas, oder es ist gar keine, sondern eine Anbahnung. Aber was für eine. Das hätte man mir mal in meinen Teenager-Jahren sagen sollen. Dass schweigendes Niederstarren des Objekts der Begierde zum Erfolg führen kann. Dieses Mal sehe ich die beiden von der Seite. Sie schaut nach vorne auf die Regale mit dem Kunsthandwerk. Er schmachtet reglos von der Seite. Auf dem Tisch liegen beide Hände vereint. Sie schweigen. An seiner Glatze vorbei sehe ich nur ihre Nase hervorragen. Deshalb musste ich sie einfach erwähnen.
Die Milch wird sauer, der Neo-Soul stottert im CD-Player und die Paninis zerfallen zu Asche. Schon will ich mich hinüberbeugen und fragen, was die beiden da eigentlich treiben und ob sie vielleicht endlich damit aufhören könnten, da kommt die wirklich sehr nette Bedienung an meinen Tisch. Sie räumt den leeren Teller weg, auf dem einst eine große Portion Bircher Müsli gelegen hat, und fragt, ob ich nun doch vielleicht frühstücken will. Ich schaue sie verwirrt an, sie mich auch, dann müssen wir kichern. Kulturelle Verwirrung. Was für mich Frühstück ist, ist für sie keines. Glatze und Nase drehen sich zu uns, wollen erkunden, wer hier kichert und ihre Meditation stört.
Die unheimliche Präsenz huscht zur Türe hinaus. Wenn ich bloß wüsste, wohin, also in welches Café. Damit ich dort auf keinen Fall hingehe. Aber leider, die Macht nur schwach in mir sie ist.
***
Am besten bleibe ich zuhause. Die Gefahr, dass die beiden sich plötzlich an meinem Esstisch manifestieren, ist gering. Habe ein paar Knoblauchknollen verstreut. Doch droht dort anderes Ungemach. Weil uns die Ameisen, die über Tische, Wände und Betten spazierten, irgendwann zu viel wurden, habe ich vor ein paar Monaten das halbe Dach abdecken lassen. Dort, zwischen Ziegeln, Wellblech und Holzverschalung sollten sie angeblich ihre Nester haben, wusste eine Nachbarin. Folgende Erkenntnisse stellten sich danach ein: (a) sei Deinen Nachbarinnen gegenüber viel kritischer, (b) Ameisen haben ihre Nester nicht dort oben, sondern nutzen das Dach nur als Autobahn und, schließlich, (c) fasse niemals ein funktionierendes Dach an, möglicherweise wird es nie wieder so dicht wie vorher.
Die Ameisen sind immer noch da, dafür regnet es seit der Aktion aufs Sofa, den Sisal-Teppich, aufs Fernsehgerät und die Stereoanlage. So auch gestern Nacht. Und die Nacht davor auch. Ich stundenlang im Einsatz mit Eimern, Handtüchern und Wischmop gegen die Viktoriafälle. Wischen und wringen, wischen und wringen. Insgesamt vier Reparaturversuche während der vergangenen Wochen haben nicht geholfen. Heute ist der Fünfte. Wenn es wieder nicht klappt, wird mich auch morgen wieder ein schneidiges „Mitkommen“ aus dem Kinderzimmer zur Unzeit aus meinem sehr dringend nötigen Schönheitsschlaf reißen.