Dass es zwischen Kenia und Deutschland, oder, genereller gesagt, zwischen einem so genannten Entwicklungsland und einem Hochindustrieland gewisse Unterschiede gibt, ist bekannt. Für den Bummler zwischen den Welten ist es immer wieder spannend, zu beobachten, wann diese Unterschiede besonders krass zu Tage treten. Für mich überraschend, in der Rückschau aber irgendwie auch logisch, traf mich die Erkenntnis beim Besuch einer deutschen Ikea-Filiale wie der Schlag einer nassen Ramskär-Badematte mittens in Gesicht.
Wir haben einen Esstisch, der relativ klein ist und in den weitläufigen Hallen der kenianischen Behausung nahezu verschwindet. Auch das an Kenia angepasste Sozialleben, das aus vielen Gründen eher zuhause, als auswärts stattfindet, trug dazu bei, dass wir uns eine Vergrößerung des Tisches wünschten. Also dachten wir an eine Kopie des Möbels, das wir einfach nur Tisch und nicht Gustav oder so nennen. Dieselbe Größe, Höhe, Breite und vor allem auch Farbe sollten es sein.
Nach einigen Recherchen im Freundeskreis hatten wir einen Schreiner gefunden, der dem Hörensagen nach mit einiger Zuverlässigkeit unter anderem auch rechtwinklige Tischbeine zimmern konnte. Wir luden den Vize-Chef der Werkstatt zu uns nachhause zum Ortstermin ein. Er kam und fertigte eine gute Zeichnung des Wunschmöbels an. Ein Preis wurde vereinbart, und für zwei Wochen wurde der Rohbau versprochen, den wir bei einem Besuch in der Werkstatt abnehmen sollten. Unsere Bedingung war: Die Kopie sollte perfekt sein.
Die zwei Wochen vergingen, es wurden drei, dann vier. Endlich kam der erlösende Anruf. Wir könnten kommen. Ich fuhr alleine hin. Zwei kräftige Männer trugen das noch helle Mahagoni-Möbel aus der Werkstatt ans Licht. Ein wenig krummbeinig stand Tisch (nicht Gustav) im Freien, aber davon abgesehen sah er eigentlich ganz gut aus. Ich legte das Maßband an, und schnell zeigte sich, dass der erste Eindruck getrogen hatte. Aus 90 Zentimetern Breite waren 88 geworden, aus 77 Zentimetern Höhe 79 und die Beine, die im Original eine Kantenlänge von 10 Zentimetern hatten, waren mit knapp 9 etwas schlanker geraten.
Der Handwerker schaute schweigend. Der Chef rief den Vize-Chef, der seine Zeichnung heraus kramte. In der Theorie war alles richtig, nur in der Praxis nicht. Wir einigten uns darauf, den Originaltisch quasi als Aktmodell zur Verfügung zu stellen und speisten fortan auf unseren Campingmöbeln. Nach weiteren zwei Wochen kam wieder ein Anruf. Der Tisch sei nun begradigt und in der Größe korrigiert.
Also fuhr ich ein weiteres Mal in die etwa 45 Minuten entfernte Werkstatt. Nun stimmten die Maße, jedenfalls um die Brust herum. Die Beine waren aber noch immer dieselben und verjüngten sich nach oben hin sogar, weil die Herren Schreiner es beim Hobeln und Schleifen ein wenig zu gut gemeint hatten.
Ich hatte mich mental lange auf diesen Moment vorbereitet, hatte mir eine Liste mit Argumenten zurecht gelegt, verschiedene Gefühlszustände, und wie sie zu vermitteln wären, einstudiert. Denn ich musste zwei widerstreitende Bedürfnisse in Einklang bringen. Einerseits hatten wir gesagt, dass wir nur ein perfektes Möbel akzeptieren würden. Andererseits war nun so viel Zeit vergangen, dass wegen nahender Festlichkeiten zuhause ein erneuter Versuch, einen Tisch herzustellen, gar nicht mehr möglich war.
Also sagte ich, wir nehmen ihn, aber nur wesentlich billiger. Das ginge nicht, sagt der Chef, er müsse ja auch seinen Profit haben. Ich entgegnete, der beste Profit des Unternehmers sei ja wohl die Kundenzufriedenheit. Aber irgendwie war er anderer Meinung. So kamen wir nichts ins Geschäft. Ich sagte, ich würde mich wieder melden und ging. In einem nahegelegenen Coffeeshop packte ich erst einmal die Zeitung aus und las eine Stunde.
Dann rief ich den Chef an. Ob er sich den Preis noch einmal überlegt hatte. Nein, hätte er nicht. Dann würden wir den Tisch nicht nehmen. Jetzt kam Bewegung in die Verhandlung. Naja, vielleicht, also, wenn er noch einmal ganz genau nachrechne, einen Moment, ich hörte das Geräusch eines Taschenrechners am Telefon klappern.
Die mächtigste Waffe des Geschäftsmannes ist sein Taschenrechner. Es ist immer das Gleiche, weltweit. Man fragt in einem beliebigen Laden, ob an dem Preis noch etwas zu machen wäre. Der Geschäftsmann verzieht das Gesicht, schmerzvoll, leidend, fragend. Übersteht der Kunde diesen Stresstest und das prickelnde Sekundenschweigen, greift der Geschäftsmann zum Taschenrechner. Er tippt, er überlegt, er schaut in eine Liste, er tippt, schaut in die Ferne, knubbelt am Kinn, zögert, tippt nochmals, haut schwungvoll auf die Summentaste und verkündet das Ergebnis.
Es ist, als hätte der billige Rechner aus China plötzlich eine übergeordnete Autorität gewonnen. Dabei weiß doch jeder, dass der Rechner nur das berechnet, was der Geschäftsmann ihm eingibt. Dennoch ist es hart, fast unmöglich, gegen die grünlichen Digitalziffern anzukommen. Da stehen sie und schneiden ins Auge wie das Messer, mit dem sich der Geschäftsmann diesen tollen Discountpreis aus den Rippen geschnitten hat, auf Kosten seiner vielköpfigen Kinderschar und auch der Großeltern, die, väterlicher- wie mütterlicherseits, bei ihm wohnen.
Der kenianische Möbelmacherchef kam nach einigem hörbarem Tippen zum einem Ergebnis, das er mir schnaufend präsentierte. Es war noch immer nicht, das, was wir uns vorgestellt hatten, aber annehmbar. Also schlug ich ein, fuhr nachhause, um Bargeld zu holen und wieder zurück, um zu bezahlen. Tags darauf wurden beide Tische geliefert und stehen nun, wie Zwillinge, aber schon eher wie zweieiige, nebeneinander. Ehrlich, wenn man nicht so genau hinschaut, sieht es gar nicht schlecht aus.
Vorgestern war ich zum ersten Mal seit drei Jahren bei Ikea. Der dort herrschende Organisationsgrad hat ein Ausmaß erreicht, das für den Aushilfskenianer kaum zu ertragen ist. Ikea, habe ich den Eindruck, kennt mich besser, als ich mich selbst, und mich würde nicht wundern, wenn Ikea weiß, dass ich bald vorbeischauen werde, lange bevor ich selbst die Idee dazu habe. Der gesamte Laden wirkt auf mich wie eine Großmarkt gewordene Version meines Unterbewusstseins.
Wir waren dort nur wegen zwei Dingen: Duschvorhängen und Lampen. In ganz Kenia gibt es keinen weißen Duschvorhang, sondern nur welche mit lustigen Motiven, die in unserem 70er Jahre Bad mit seinen Ocker- und Orangetönen zur endgültigen Geschmacks-Overkill führen würden. Und die Ikea-Lampen haben einen entscheidenden Vorteil für uns: Sie werden in Einzelteilen geliefert und passen deshalb in einem normalgroßen Koffer.
Schweigend gingen wir durch die Hallen und folgten dem von Marketing-Strategen liebevoll entworfenen Irrpfad durchs Sortiment, notierten, dass sich dies und das in der Markthalle oder im Regal Nr. Soundso befände, gingen dorthin und stopfen alles in eine große gelbe Tüte. Am Ausgang, bedienten wir uns selbst, für mich völlig neu, an diesen Stationen, wo der Kunde selbst den Laserscanner an den Barcode führt, bezahlten elektronisch und verließen den Laden.
Der Besuch hatte etwa eine Stunde gedauert. Wir hatten mit niemandem außer miteinander gesprochen. Niemand hatte uns gefragt, ob wir etwas wollen, suchen oder eine Frage haben. Es war wie der Besuch eines Museums, in dem man die Ausstellungsstücke ausprobieren und mit nachhause nehmen darf. Selbst an der Kasse fiel kein Wort, was auch, sollte ich dem Barcode-Lesegerät vielleicht einen schönen Tag wünschen? Unser in Kenia gezimmerter Tisch hat bereits eine Geschichte hinter sich. Um ihn herzustellen, war unglaublich viel Kommunikation nötig, Telefonate, Gespräche, Diskussionen, Streit, Verhandlungen, Verbrüderung und schließlich die Spannung, wie er sich wohl neben seinem Zwilling machen würde.
Das Einkaufserlebnis in Kenia ist wesentlich intensiver, dauert viel länger, und der Ausgang ist viel ungewisser. Mag sein, dass einige nun denken, „ja, und genau deshalb kaufe ich ja so gerne bei Ikea ein“. Womit wir wieder am Anfang wären.