Seitdem wir ZDF haben, muss ich öfter einmal wegsehen. Wenn auf dem Bauernhof unterm weißblauen Himmel einmal mehr die Stammbesatzung deutscher TV-Besinnlichkeit auftritt, also der Lehrer, der Arzt, der Bürgermeister und der Pfarrer, und alle unheimlich lieb zueinander sind, tränen mir die Augen. Dann hilft nur noch ein Blick auf die Wand hinter dem Fernseher. Dort spielt sich das wahre Leben ab, und das jeden Abend zur besten Sendezeit.
Die Wand hinter dem Fernseher ist drei Meter breit, ebenso hoch und weiß gestrichen. Links und rechts begrenzen wandhohe Fenster. In der Mitte steht ein alter Schrank mit Glastüren. Und hinter dem Schrank, in der Lücke zwischen Holz und Wand, wohnt ein Gecko, der tagsüber schläft und nachts zur Jagd erwacht.
Ich sehe nie, wo er herkommt. Irgendwann ist er einfach da. Der Gecko sitzt oberhalb einer Stehlampe und wartet dort auf Insekten, die vom Licht angelockt werden. Seine Jagd hört sich so aufregend an wie der Besuch eines Fastfood-Restaurants – “einmal das Maxi-Nachtfalter-Menü mit ner Cola light, bitte”. Ein bisschen schwerer hat er es aber schon, denn der Gecko ist in seinen Fähigkeiten und seiner Weltsicht etwas eingeschränkt.
Seine Welt ist neun Quadratmeter groß, wovon zwei vom Schrank bedeckt sind, hinter der wir seinen Unterschlupf vermuten. Nie sehe ich den Gecko die Wand verlassen, obwohl er kraft seiner Klebefüße am Boden, an der Wand, oder sogar kopfüber an der Decke hangelnd, den Rest des Hauses erkunden könnte. Nein, der Gecko rennt, mal unmotiviert, meist aber angestachelt durch Geflatter um die Lampe, genau dieses Stück Wand entlang. Immer links und rechts, rauf oder runter, aber nie einen Schritt weiter.
Komisch, Wohnfläche wird immer nur ein Quadratmetern angegeben. Wo wir doch durchaus in einer dreidimensionalen Welt leben. Wären alle Wohnungen gleich hoch, wäre das vielleicht nebensächlich. Doch seitdem das halbe deutsche Bürgertum davon träumt in Altbauten zu wohnen, mit Deckenhöhen von 3,5 Metern und mehr, sollten Makler vielleicht doch einfach mal von Kubikmetern sprechen. Ein fünf mal sechs Meter großes Zimmer hat vielleicht 30 Quadratmeter, aber bei 3,8 Metern Höhe schon 114 Kubikmeter. Das hört sich doch gleich viel besser an.
Unser Gecko weiß davon nichts. Auch wenn es nicht ganz richtig ist, aber für mich ist er ein zweidimensionales Wesen. Sein Kopf schabt nur knapp über der Wand lang. Gequält hebt er ihn an und blickt er dem Falter nach, der flügelschlagend in die dritte Dimension entfleucht. Ein Gecko hüpft auch nicht, diesen Reflex hat ihm die Natur ausgetrieben. Ist ja auch klar. Wer immer am Boden sitzt, kann vielleicht gefahrlos hopsen. Wer aber an der Wand oder der Decke hängt, dem würde die Schwerkraft beim kleinsten Hüpfer einen bösen Streich spielen.
So sitzt der Gecko also auf seinen neun Quadratmetern und kann nicht anders. Nach allen Seiten ist er eingegrenzt, ein Oben und Unten steht nicht zur Verfügung. Ist das nun gut oder schlecht? Grenzen zu haben, meine ich. Für den einen sind sie eine Falle, für den anderen eine wohltuende Einschränkung der sonst vielleicht zu vielen Möglichkeiten.
Eines Tages wird der Gecko sterben. Dann, erst dann, wird er Neuland betreten. Er wird von der Wand auf den Boden fallen, den er vorher noch nie betreten hat. Er stürzt über den Rand der Welt hinaus ins Ungewisse, das schon immer dort war. Er hätte zwischendurch nur einfach mal loslassen müssen. Wenn es ihn denn interessiert hätte.
Doch nun zurück zu Lehrer, Arzt, Bürgermeister und Pfarrer, die alle unheimlich lieb zueinander sind, unterm weißblauen Himmel.