Von topfitten Kleinkindern am Morgen, mörderischen Speedbumps, schweigenden Beziehungsgesprächen und hartnäckigen Löchern im Dach.
Heute wieder um Viertel vor sechs geweckt worden. B. ruft aus dem Kinderzimmer „Papaaa!“. Wenn ich dann schlaftrunken irgendetwas Unartikuliertes antworte, setzt sie mit frischer, heller Stimme ein „Mitkommen“ hinzu. Damit meint sie, ich solle gefälligst antreten und sie aus dem Gitterbett in den neuen Tag heben. Und zwar gestern. Flott. Dalli. Pronto. Zackzack. Vor einigen Monaten hatte ich sie bei eben dieser Gelegenheit gefragt, ob sie mitkommen will. Da hat sie wohl Gefallen an der Formulierung gefunden.
Nachdem wir beim Töpfchen gehen, Zähneputzen, Schlafanzug aus und Klamotten an, beim Frühstück und beim Schuhe anziehen, bereits ausführlich Fangen und Verstecken gespielt haben, verlassen wir das Haus Richtung Kindergarten. Noch einmal Fangen und Verstecken rund ums Auto, dann sitzt sie endlich im Kindersitz. Als ich mich setze, beschlagen die Scheiben, mein Kreislauf ist auch ohne Frühsport auf Hochtouren.
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Gegen 7.30 sollte die Welt auf unserer Straße in Ordnung sein. Wieder in Ordnung. War es fünf Jahre lang. Dann hat eine Abordnung kenianischer Schildbürger einen Speedbump installiert. Wie heißt das eigentlich auf Deutsch? Lexikon sagt „Rüttelschwelle“. Habe ich noch nie gehört. Ich übersetze mit „Mörderklippe“. Die Speedbumps in Kenia sind absurd. Viel zu steil, viel zu hoch. Immerhin demokratisch. Selbst der schnellste Frühstücksparlamentarier muss in seinem Riesengeländewagen davor ganz bescheiden abbremsen und mit dem Tempo eines grönländischen Gletschers drüber schleichen. Fahrer aus dem gemeinen Volk, mit Autos von geringer Bodenfreiheit, nehmen ihn diagonal, damit immer ein Rad auf höchsten Punkt des Bumps ist und so den Wagenboden in der Luft hält.
Seit der Speedbump da im Weg steht oder liegt, verbringe ich morgens 20 Minuten in einem Stau, den es vorher nicht gab. Gestern Nachmittag, auf der Rückfahrt vom Kindergarten, sehe ich kräftige Männer mit Spitzhacken auf den Bump einschlagen. Habe kurz vor Glück geweint. Nun ist aber doch wieder Riesenstau. 20 Minuten später die Erklärung dafür: Die Jungs mit der Hacke haben gestern nur die Hälfte geschafft. Jetzt ist alles noch schlimmer, weil sie auf der nun Bump-losen Seite auch den Asphalt weggehackt und ein großes Schlammloch hinterlassen haben. George W. Bush erscheint, stellt sich in einer Bomberjacke auf den Rest-Bump wie auf einen Feldherrnhügel und sagt bitter: „Mission not accomplished.“
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Nach dem Drive-by-Dropping im Kindergarten besuche ich das Café Berlin. Es heißt eigentlich anders, aber Freunde haben es so getauft, weil es auch in Berlin stehen könnte. Drei aus hellem Holz handgezimmerte Tische auf der einen Seite, auf der anderen geweißelte Regale mit lokalem Kunsthandwerk, Menschen, die zwischen Latte Macchiato und Panini auf ihre Laptops einhacken, leiser Neo-Soul auf den Lautsprechern. Ich bin der erste Gast und warte, bis die Kaffeemaschine warm wird. Kurze Zeit später setzt sich ein Pärchen an den Tisch neben mir. Ich kann’s nicht fassen. Es ist Glatzenmann und Freundin.
Glatzenmann ist ein etwa 35-jähriger Engländer mit-ohne Haare, also einer derjenigen, die sich wegen Haarausfall den Kopf scheren. Rückgewinnung der Kontrolle über den eigenen Körper. Irgendwie auch biblisch. Wenn Deine Haare Dich betrügen, dann schneid‘ sie ab und wirf‘ sie weg. Ob die Frau wirklich seine Freundin ist – oder nicht mehr, oder noch nicht – das ist nicht sicher. Dazu gleich mehr. Sie ist gleichalt, hat einen Pagenschnitt, eine bunte Hornbrille und eine große Nase. Ich würde das alles nicht erwähnen – vor allem nicht die Nase, das ist ja nicht sehr charmant – wenn ich die beiden in der vergangenen Woche nicht in drei verschiedenen Cafés angetroffen hätte.
Meiner Ansicht nach führen die beiden ein Beziehungsgespräch, schweigend und außerdem seriell. Wie beim Film: Was man früher in 90 Minuten erzählen konnte, daraus macht man heute neun Staffeln mit 200 Folgen. Beim ersten Mal saßen sie sich gegenüber. Ihre Hand in seiner. Sein Kopf etwas nach unten gekippt. Von dort schaute er in ihre Augen. Tief und fest. Und sehr lange. Jedenfalls versuchte er es. Sie wusste nicht so genau, wohin sie schauen soll. Blickte abwechselnd an ihm vorbei, an die Decke, kurz in seine Augen, auf den Tisch, auf ihre Tasche auf dem Sitz neben ihr und wieder von vorne. Sie sagten nichts, mindestens 15 Minuten lang.
Wie die Situation für die beiden war? Keine Ahnung. Das Publikum versuchte gequält, woanders hin zu starren. Es half nichts. Ich fühlte mich wie Luke Skywalker in der Gegenwart von Darth Vader. Die Spannung britzelte an meinen Nackenhaaren. Zwei Tage später betrat ich ein anderes Café. Sofort spürte ich etwas, eine Präsenz. Da saßen die beiden. Als hätte jemand vorgestern eine Skulptur nach ihrem Bild geformt und hier aufgestellt. Ihre Hand in seiner. Penetranter Hundeblick, auf der einen, flackernder Blick auf der anderen Seite. Schweigen.
Und nun, zum dritten Mal, jetzt auch im Café Berlin. Man ist wirklich nirgends mehr sicher. Entweder diese Trennung zieht sich einfach etwas, oder es ist gar keine, sondern eine Anbahnung. Aber was für eine. Das hätte man mir mal in meinen Teenager-Jahren sagen sollen. Dass schweigendes Niederstarren des Objekts der Begierde zum Erfolg führen kann. Dieses Mal sehe ich die beiden von der Seite. Sie schaut nach vorne auf die Regale mit dem Kunsthandwerk. Er schmachtet reglos von der Seite. Auf dem Tisch liegen beide Hände vereint. Sie schweigen. An seiner Glatze vorbei sehe ich nur ihre Nase hervorragen. Deshalb musste ich sie einfach erwähnen.
Die Milch wird sauer, der Neo-Soul stottert im CD-Player und die Paninis zerfallen zu Asche. Schon will ich mich hinüberbeugen und fragen, was die beiden da eigentlich treiben und ob sie vielleicht endlich damit aufhören könnten, da kommt die wirklich sehr nette Bedienung an meinen Tisch. Sie räumt den leeren Teller weg, auf dem einst eine große Portion Bircher Müsli gelegen hat, und fragt, ob ich nun doch vielleicht frühstücken will. Ich schaue sie verwirrt an, sie mich auch, dann müssen wir kichern. Kulturelle Verwirrung. Was für mich Frühstück ist, ist für sie keines. Glatze und Nase drehen sich zu uns, wollen erkunden, wer hier kichert und ihre Meditation stört.
Die unheimliche Präsenz huscht zur Türe hinaus. Wenn ich bloß wüsste, wohin, also in welches Café. Damit ich dort auf keinen Fall hingehe. Aber leider, die Macht nur schwach in mir sie ist.
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Am besten bleibe ich zuhause. Die Gefahr, dass die beiden sich plötzlich an meinem Esstisch manifestieren, ist gering. Habe ein paar Knoblauchknollen verstreut. Doch droht dort anderes Ungemach. Weil uns die Ameisen, die über Tische, Wände und Betten spazierten, irgendwann zu viel wurden, habe ich vor ein paar Monaten das halbe Dach abdecken lassen. Dort, zwischen Ziegeln, Wellblech und Holzverschalung sollten sie angeblich ihre Nester haben, wusste eine Nachbarin. Folgende Erkenntnisse stellten sich danach ein: (a) sei Deinen Nachbarinnen gegenüber viel kritischer, (b) Ameisen haben ihre Nester nicht dort oben, sondern nutzen das Dach nur als Autobahn und, schließlich, (c) fasse niemals ein funktionierendes Dach an, möglicherweise wird es nie wieder so dicht wie vorher.
Die Ameisen sind immer noch da, dafür regnet es seit der Aktion aufs Sofa, den Sisal-Teppich, aufs Fernsehgerät und die Stereoanlage. So auch gestern Nacht. Und die Nacht davor auch. Ich stundenlang im Einsatz mit Eimern, Handtüchern und Wischmop gegen die Viktoriafälle. Wischen und wringen, wischen und wringen. Insgesamt vier Reparaturversuche während der vergangenen Wochen haben nicht geholfen. Heute ist der Fünfte. Wenn es wieder nicht klappt, wird mich auch morgen wieder ein schneidiges „Mitkommen“ aus dem Kinderzimmer zur Unzeit aus meinem sehr dringend nötigen Schönheitsschlaf reißen.